Francis Schaeffers geistliche Krise

... und neun weitere Fakten über sein Leben und seinen Dienst

Artikel von William Edgar
15. Mai 2024 — 8 Min Lesedauer

1. Die Bibel im Zentrum der Weltanschauung

Francis A. Schaeffer (1912–1984) kam mit 17 Jahren zum Glauben an Jesus Christus, nachdem er zum ersten Mal die Bibel vollständig durchgelesen hatte. Als aufgeweckter Teenager hatte er viele Fragen zum Leben und merkte, dass philosophische Bücher ihm nicht weiterhalfen. Die Überzeugung, dass die Bibel grundlegende Antworten auf grundlegende Fragen enthält, sollte sein Leben und seine Arbeit prägen. Der Leitspruch der Lebensgemeinschaft L’Abri lautete: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ (Röm 1,16). Er verteidigte die Irrtumslosigkeit der Schrift gegen jede vergeistigende Hermeneutik.

2. Eine tiefe geistliche Krise

In den frühen 1950er Jahren erlebte Schaeffer eine tiefe, aufwühlende geistliche Krise. Obwohl er alle richtigen Lehren vertrat und verteidigte, stellte er fest, dass sein eigenes geistliches Leben verdorrte. Das brachte ihn dazu, alles noch einmal von Grund auf zu durchdenken.

„Obwohl er alle richtigen Lehren vertrat und verteidigte, stellte er fest, dass sein eigenes geistliches Leben verdorrte.“
 

Er kam mit einem neuen Gefühl für die Realität des christlichen Glaubens aus dieser Zeit heraus. Er fragte seine Frau Edith einmal, ob es in ihrem Leben irgendeinen Unterschied machen würde, wenn alle Bibelstellen über den Heiligen Geist und das Gebet gestrichen würden. Sie stellten fest, dass es keinen Unterschied machen würde; deshalb entschlossen sie sich, eine neue Abhängigkeit von der Realität des Geistes Gottes und ein lebendiges Gebetsleben zu entwickeln.

3. Die Gründung von L’Abri und die Wirklichkeit Gottes

Die Lebensgemeinschaft L’Abri in den Schweizer Alpen wurde 1955 aus der Überzeugung gegründet, dass Gott keine Illusion ist. In seiner Predigtreihe, aus der das Buch Geistliches Leben – was ist das? entstand, entwickelte Schaeffer seine Sicht von Heiligung. Im Zentrum standen dabei die Realität und Kraft Jesu Christi, uns in seiner Nachfolge durch drei notwendige Etappen zu führen: Ablehnung, Sterben und Auferstehung. Er erklärte, dass man mit Perfektionismus genauso wenig wie mit ziellosem Dahinleben erreiche. Stattdessen sprach Schaeffer von „substantiellen“ Veränderungen, die ein Christ in allen Bereichen des Daseins erlebt – im sozialen und im psychologischen Bereich, in der erfüllenden Liebe zu Gott sowie in einer Nächstenliebe, die frei von Missgunst ist.

4. Einsatz für die Würde eines jeden Menschen

Obwohl er sich der Sündhaftigkeit und Gebrochenheit des Menschen voll bewusst war, verteidigte er dennoch vehement die Würde des Menschen, unabhängig davon, ob er in den Augen der Welt ein „unbedeutender Mensch“ (eine Anspielung auf eine berühmt gewordene Predigt von Schaeffer mit dem Titel „No Little People“, Anm.d.Red.) war oder nicht. Er übte scharfe Kritik an der operanten Konditionierung von B.F. Skinner und wies stattdessen Zurück zu Freiheit und Würde (1972). Seinen Widerstand gegenüber Abtreibung auf eigenen Wunsch, Sterbehilfe und Kindstötung dokumentierte er in dem Buch Was auch immer mit der menschlichen Art geschieht (1983), das er zusammen mit C. Everett Koop herausbrachte, dem damaligen Leiter des öffentlichen Gesundheitswesens in den USA. Darüber hinaus betrachtete er die Bildenden Künste als einen Beweis, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, selbst wenn sie Verzerrungen und Rebellion darstellten. Gegen das Dilemma von Mystizismus oder Nihilismus setzte Schaeffer die Würde des Menschen.

5. „Keine Wahrheit ohne Liebe“ und „Keine Liebe ohne Wahrheit“

Schaeffer betonte immer wieder das grundlegende Prinzip, dass „wahre Wahrheit“ unverzichtbar ist, aber ohne Liebe kalt und grausam. „Eine Gemeinde oder christliche Gruppe muss die Wahrheit vertreten, aber sie sollte auch schön sein“, sagte er einmal. Er sprach von Orthodoxie (die richtige Lehre), die durch Orthopraxie (das richtige Leben) ergänzt wird. Wer L’Abri besuchte, konnte schnell feststellen, wie diese außergewöhnliche Balance gehalten wurde.

„Schaeffer betonte immer wieder das grundlegende Prinzip, dass ‚wahre Wahrheit‘ unverzichtbar ist, aber ohne Liebe kalt und grausam.“
 

Schaeffer war ein leidenschaftlicher Verfechter der Wahrheit und ein vehementer Gegner des Relativismus in all seinen Erscheinungsformen. Ehrliche Fragen verdienten ehrliche Antworten, behauptete er. Aber sowohl er persönlich als auch die Gemeinschaft im Allgemeinen waren von Gnade und Liebe durchdrungen. Jeder Mensch, egal wie verloren, war ein Ziel der Liebe Gottes. Eine solche Liebe ist kostspielig und erfordert große Opfer und Risiken.

6. Voraussetzungsbewusste Apologetik (Präsuppositionalismus)

Schaeffer entwickelte keine Schritt-für-Schritt-Methode der Apologetik, aber hatte ein unheimliches Gespür für den Widerspruch zwischen dem, was ein Nichtchrist äußerte, und seinen tief verankerten Überzeugungen oder Praktiken. Er glaubte, dass jeder Mensch um Gott weiß (vgl. Röm 1,18–21). Deshalb verstand er, dass Menschen zwar kühn die Sinnlosigkeit des Lebens oder den Atheismus vertreten können, aber ihr Leben ein tieferes Bewusstsein verrät.

In der Annahme, dass Gottes Offenbarung unumgänglich ist, und in der Überzeugung, dass es unmöglich ist, so zu leben, als gäbe es Gott nicht, konnte Schaeffer so lange nachhaken, bis er an einen Punkt kam, an dem sich der Widerspruch zeigte. Von dort aus konnte er einem Menschen, der offen dafür war, das Evangelium erklären.

7. Bejahung der guten Schöpfung

Eines von Schaeffers wichtigsten Diagnoseinstrumenten war die Feststellung einer Spaltung zwischen dem, was er das „untere Stockwerk“ und das „obere Stockwerk“ nannte. Im unteren Stockwerk leben die kalten, harten Fakten – die Welt des Mechanischen, das geschichtliche Wissen. Im oberen Stockwerk wohnen das Irrationale, das Mystische und das Relative. Solche Dichotomien waren charakteristisch für die Philosophie und die Kultur. Aber sie kennzeichneten auch die moderne Theologie, sowohl die liberale als auch die neo-orthodoxe. Nach Schaeffers Ansicht entziehen sie jedoch dem unteren Stockwerk, der guten Schöpfung Gottes, den Sinn.

In einem berühmten Gespräch mit Karl Barth im Jahr 1950 soll Schaeffer den großen Theologen gefragt haben, ob er glaube, dass Gott die Welt geschaffen habe. Barth antwortete, dass er dies im 1. Jahrhundert n.Chr. tat. Schaeffer deutete nach draußen und fragte, ob das auch „diese Welt“, den Wald und den Berghang, einschließe. Darauf antwortete Barth: „Diese Welt spielt keine Rolle.“ Genau dagegen setzte Schaeffer sich ein – die Schöpfung mit der Inkarnation gleichzusetzen und die gegenwärtige Welt damit abzuwerten.

8. Aufstieg und Fall des Westens

Francis Schaeffer glaubte, dass man vom antiken Rom, über das Mittelalter, die Reformation, die Aufklärung und bis hin zur Gegenwart eine Spur des Aufstiegs und Niedergangs verfolgen könne. Ähnlich wie Gibbon glaubte er, dass das Debakel, das sich vor unseren Augen entfaltet, das Ergebnis eines kumulativen Prozesses sei, in welchem die unteren und oberen Stockwerke zunehmend die Verbindung zueinander verlören. Der Niedergang ist am deutlichsten sichtbar im 19. und 20. Jahrhundert, wo die „Linie der Verzweiflung“ überschritten wurde, denn da verschob sich der Fokus von der Notwendigkeit des Rationalen hin zur Möglichkeit des Irrationalen. Das Buch (und der Film) Wie können wir denn leben? illustriert diese Geschichtsschreibung am Beispiel von Musik, Kunst, Philosophie, Film und Theologie. Das letztendliche Ergebnis endet in Gehirnwäsche und der Behandlung von Menschen als Maschinen.

9. Die christliche Botschaft gilt für alle Lebensbereiche

Francis Schaeffer wandte die christliche Botschaft auf viele Bereiche des Lebens an. Die Liste ist lang. Besonders bemerkenswert ist sein vorausschauender Blick auf das Thema Ökologie, wo er sowohl die „Pessimisten“ kritisierte, die Genesis 1 für die Umweltverschmutzung verantwortlich machten, als auch die „Optimisten“, die zuversichtlich waren, dass die Technologie uns retten könnte (Das programmierte Ende: Umweltschutz aus christlicher Sicht, 1970).

Er sprach auch das Thema Rassismus in einer Weise an, wie es viele Evangelikale nicht taten. Er wandte sich gegen die Verdinglichung der schwarzen Bevölkerung und plädierte dafür, alle Menschen als Ebenbilder Gottes zu behandeln. Schaeffer wandte sich ständig gegen das „Zwillingswertepaar“, bestehend aus persönlichem Frieden und Wohlstand. Stattdessen forderte er einen aufopferungsvolles Einsatz gegen soziale Missstände. Wie bereits erwähnt, war er ein Verfechter der Würde des menschlichen Lebens und lehnte nicht nur Abtreibung und dergleichen ab, sondern alles, was den Menschen auf eine Maschine reduziert.

10. Eine tiefe Liebe zu seiner Frau Edith

Das Beste kommt zum Schluss: Die meisten von uns würden bestätigen, dass Francis Schaeffer ohne seine hingebungsvolle Frau Edith Seville Schaeffer (1914–2013) nur sehr wenig zustande gebracht hätte. In China geboren, lernte Edith Francis in Philadelphia kennen und ermutigte ihn, ein theologisches Seminar zu besuchen und dann in den vollzeitlichen Dienst zu treten. Die Schaeffers starteten eine Arbeit unter Kindern und machten ihr Haus in der Schweiz Tausenden Menschen zugänglich, die mit ihren Fragen, Problemen und Nöten in die Schweizer Berge pilgerten.

Sie hatten vier Kinder, die sie in einem äußerst herausfordernden Lebenskontext aufzogen. Edith kümmerte sich als herausragende Gastgeberin zusammen mit Francis intensiv um ihre Gäste. Die Mahlzeiten waren der wichtigste Ort für tiefgehende Gespräche. Der „Tag des Gebets“ in L’Abri entstand inspiriert durch Ediths unermüdlichen Einsatz, in der Gegenwart Gottes zu leben. Sie selbst war ebenfalls eine beachtenswerte Autorin und verstand es wie keine andere, den Geist von L’Abri in Worte zu fassen.