Warum Gemeindegesang heute mehr denn je wichtig ist
Ich finde Yo-Yo Ma, den amerikanischen Cellisten, super. Die brillanten, beinahe fehlerlosen Striche seines Bogens beim Tanz über die gespannten Saiten erwecken Melodien zu neuem Leben, die vor Jahrhunderten von Meistermusikern sorgfältig herausgearbeitet wurden.
Seitdem sind Jahrhunderte vergangen. Und doch liege ich nachts auf meinem Bett und höre, wie diese Klassiker unter den Händen eines zeitgenössischen Meisters neu belebt werden – sämtliche Noten dringen durch winzige, weiße Kopfhörer zu mir hindurch, als würden sie Zeit und Raum durchziehen.
Ach, wie sehr haben sich die Dinge geändert seit den Tagen, als meine Eltern uns sonntagabends in die Häuser von befreundeten Missionaren oder Pastoren mitgenommen haben. Diese Abende endeten oft damit, dass alle gemeinsam sangen, auch wenn einige von uns – diejenigen mit den eher zweifelhaften musikalischen Begabungen – die ganze Sache in etwas recht Qualvolles verwandeln konnten.
Yo-Yo Ma war das definitiv nicht.
Aber es war doch etwas, und zwar etwas Besonderes. Vielleicht zeugen die nicht gerade subtilen Veränderungen zwischen damals und heute davon, wie wir heute Musik anders mental aufnehmen – eine Veränderung, die auch in unseren Gemeinden Einzug gehalten hat.
Alles andere als tot
Genauso wie das Home-Entertainment sich gewandelt hat, von Familien- und Nachbarschaftssingtreffen hin zu der Möglichkeit, jede Art Musik zu konsumieren, die die Profis der Welt uns anbieten, so hat sich auch die Gemeinde von einer Betonung des gemeinsamen Singens wegbewegt. Größere Gemeinden haben sich, bestenfalls, hin zu einer professionelleren, performanceorientierten Musik bewegt. Und kleinere Gemeinden haben weniger des traditionellen „Und-nun-alle-miteinander“ übernommen, weil es ihnen überholt, irrelevant und manchmal schlicht peinlich vorkommt. Denn wer kann sich schließlich mit den Meistern messen? Richtig?
Falsch!
Der Gemeindegesang ist noch lange nicht tot, und zwar hauptsächlich, weil es mit einer Lebensquelle verbunden ist, die über kulturellen Trends oder modernen Vergleichen steht. Trotzdem genießt er weniger Beachtung und Bewunderung, als ihm zusteht – und dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens, werden die Menschen in der Regel von größeren Gemeinden angezogen, in denen die „Performance“ der Musik fast professionelles Niveau erreicht, und grundsätzlich ist dagegen nichts einzuwenden. Zweitens ist in den meisten Gemeinden die Musik tendenziell so laut, dass die Anwesenden sich selbst beim Singen einfach nicht hören. Drittens, kleinere Gemeinden, die weniger in der Lage sind, quasi-professionelle Musik zu erzeugen, tendieren dazu, das Singen an sich zurückzufahren, um dadurch auch die Peinlichkeit oder die empfundene Schwäche zu minimieren.
„Der Gemeindegesang ist noch lange nicht tot, und zwar hauptsächlich, weil es mit einer Lebensquelle verbunden ist, die über kulturellen Trends oder modernen Vergleichen steht.“
Nun aber ist die Zeit gekommen, um die entscheidende Rolle des gemeinsamen Singens in unseren Gemeinden wieder zu würdigen. Das Singen ist ein Gehorsamsakt; wir kommen zusammen und singen miteinander, weil wir dazu gerufen sind, so wie wir dazu gerufen sind, die Wahrheit zu sagen. Oder unsere Frauen und Kinder zu lieben. Oder unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben. Diese Behauptungen mögen zwar etwas kühn erscheinen, aber eines dürfen nicht vergessen: Das Singen ist ein realer und handfester Ausdruck dessen, was es heißt, den Herrn von ganzem Herzen und mit unserem ganzen Wesen zu lieben, und unseren Nächsten wie uns selbst.
Singen ist auch ein Vorrecht, ein Vorgeschmack des Himmels. Eines Tages wird schließlich jeder Stamm, jede Sprache, jede Nation und jedes Volk zusammen als eine einzige Gemeinde vor des Lammes Thron singen. Bis dahin finden wir einen Mikrokosmos jenes Tages in der unscheinbaren Form des Gemeindegottesdienstes. In seiner Vorwegnahme der unvergleichlichen Herrlichkeiten des Himmels hat unser gemeinsames Singen auf Erden einen unermesslichen Wert. Wie groß dieser Wert ist, wird zunehmend auf dreierlei Art und Weise erkannt.
1. Gemeinsames Singen verändert uns als Einzelne.
Erstens, gemeinsames Singen verändert uns als Einzelne. In unserer Gesellschaft sind Depressionen weit verbreitet, unser Selbstwertgeühl ist verwirrt, Ehen und Familien brechen auseinander, die Selbstmordraten steigen immer weiter und es herrscht ein Gefühl des globalen Aufruhrs. Mitten in all dem geben wir Gott nur dann seinen rechtmäßigen Platz, wenn wir ihn anbeten und uns mit unserem Intellekt, unseren Emotionen und unseren Körpern ihm verpflichten. Wir können uns erst dann über die Probleme der Welt erheben, wenn wir unsere Augen auf den Einen richten, der höher ist als wir.
„Singen ist ein Vorrecht, ein Vorgeschmack
des Himmels.“
In der gemeinsamen Anbetung verkündigen wir das, was uns als einzelnen natürlichen Wesen manchmal als des Verkündigens unmöglich erscheint: „Du bist der Mittelpunkt des Universums. Ich bin bloß ein Moment; du bist ewig.“ In der Anbetung schließt sich das Persönliche mit dem Ewigen zusammen. Und wenn wir dann singen, heben wir unsere Augen auf zu dem Höheren, und dort finden wir Befreiung. Letztendlich wird unser Sinn erneuert, indem wir uns an die Barmherzigkeit Gottes erinnern und ihm unsere Leiber als lebendige Opfer darbringen (Röm 12,1–2).
2. Gemeinsames Singen beeinflusst unsere Gemeinschaft.
Zweitens, gemeinsames Singen wirkt sich auf unsere Gemeinschaft aus. Was es für uns als Einzelne tut, wirkt sich auch auf die Menschen um uns herum aus. Der Apostel Paulus ermutigte die ersten Gemeinden oft zur authentischen Anbetung. Er ermahnte diese jungen Christen, sich gegenseitig mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern zu ermutigen (Eph 5,19). Mit anderen Worten: Wenn wir singen, erinnern wir uns gegenseitig an ewige Wahrheiten und schmieden daher zwischen uns eine bleibende, geistliche Bindung. Wir singen dann nicht nur Gott zu; wir singen einander zu.
3. Gemeinsames Singen unterstützt unser Zeugnis.
Nicht zuletzt ist das gemeinsame Singen ist ein radikales Zeugnis für die, die es mitbekommen.
„Das Singen ist ein realer und handfester Ausdruck dessen, was es heißt, den Herrn von ganzem Herzen und mit unserem ganzen Wesen zu lieben.“
Stell dir mal vor, wie sich unser Gemeindegesang für eine Welt anhört, die nicht glaubt. Man sieht Leute, die mit Leidenschaft miteinander singen. Man sieht Gemeinschaften verzweifelter Individuen, die zusammenkommen, Männer und Frauen, die nicht in demselben Club Golf spielen oder ihre Kinder auf dieselbe Schule schicken könnten. Und doch sind sie jetzt miteinander verbunden, um sich gegenseitig die einzigartige Melodie der Guten Nachricht zuzusingen.
Als ich Kind war, hat man mir gesagt, ich solle „lauter singen“, weil das ein gutes Zeugnis sein könnte. Das Singen ist jedoch immer ein Zeugnis für irgendetwas – entweder für das größte Vorrecht unseres Lebens, oder dafür, dass uns ehrlich gesagt langweilig ist. Von den Leuten, die unsere Gemeinden besuchen, über unsere Kinder, die noch nicht glauben, bis zu den Menschen, die vom Bordstein aus unsere Stimmen hören – wenn wir miteinander von der Gnade unseres Heilands singen, dann ist das ein mächtiges Zeugnis.
Das ewige Konzert
Yo-Yo Ma finde ich super. Aber das Singen mit dem Volk Gottes? Das Einstimmen in den ewigen Chor? Das Erfassen unserer bluterkauften Bestimmung? Das Zusammenstehen mit denen, die Tränen in den Augen haben? Die Erinnerung an die Zeit, als dieselben Menschen neben mir standen, als ich Tränen in den Augen hatte? Vor dieser Welt von der einzigen Hoffnung, die wir in dieser Welt haben, zu singen?
Das ist das ewige Konzert der Seele – das ultimative Meisterstück.