Sind vor Gott alle Sünden gleich?

Artikel von Michael Patton
21. Februar 2017 — 10 Min Lesedauer

Während meiner Ordinationsprüfung bekam ich von einem Seminarprofessor folgende Frage gestellt: „Sind in Gottes Augen alle Sünden gleich?“ Ich zögerte. Nicht etwa, weil ich keine feste Meinung zu diesem Thema gehabt hätte, sondern weil ich nicht wusste, was er hören wollte. Sind in Gottes Augen alle Sünden gleich? Möglicherweise hing damals meine Ordination von der Antwort auf diese Frage ab.

Es ist sehr üblich, diese Frage innerhalb der evangelikalen Szene zu bejahen. Das jedenfalls war eine der Hauptannahmen in einem Buch, das ich gerade erst letzte Woche empfohlen hatte. Die meisten finden dieses theologische Konzept sehr ansprechend und akzeptieren es, wie ich leider sagen muss, ohne ihre Hausaufgaben dabei gemacht zu haben.

Ich denke, die Präferenz, zu akzeptieren, dass alle Sünden in Gottes Augen gleich sind, wird durch folgende Einflüsse forciert:

  1. Als Gegenreaktion von Protestanten gegen die Unterscheidung der römisch-katholischen Kirche zwischen Todsünden (Sünden, welche die rechtfertigende Gnade zunichte machen) und lässlichen Sünden (Sünden, die weniger schwerwiegend sind und die rechtfertigende Gnade nicht fundamental beeinflussen).
  2. Eine Neigung innerhalb unserer evangelistischen Gemeindekultur, die Gemeinsamkeiten, die wir mit den Ungläubigen haben, zu betonen. Wenn zum Beispiel alle Sünden in Gottes Sicht gleich sind, dann ist deine Sünde nicht schlimmer als die von irgendjemand anderem. Auf diese Weise kommen wir nicht so richtend oder herablassend daher.
  3. Einige Bibelabschnitte, die auf diese Weise ausgelegt werden (sie werden im Textverlauf diskutiert).

Ich glaube auf jeden Fall nicht, dass in Gottes Augen alle Sünden gleich sind. Ich glaube, den Leuten zu erzählen, dass alle Sünden vor Gott gleich sind, richtet ernsthaften Schaden in deren Verständnis von Gottes Charakter und im Verständnis der Ernsthaftigkeit von Sünde an sich an. Dafür gibt es viele Gründe. Aber ich möchte damit beginnen, zuerst die Gegenposition ad absurdum zu führen. Danach dann will ich zu einem biblischen Argument kommen.

Ein praktischer Test

„Alle Menschen sind Sünder von Geburt an. Aber nicht alle Sünden sind gleich.“
 

Ich frage häufig Menschen, die behaupten, dass alle Sünden in Gottes Sicht gleich sind, ob sie auch entsprechend ihrer Theologie leben. Überleg mal: Wenn alle Sünden vor Gott gleich sind und jemand glaubt das wirklich, dann wird Gottes Bestürzung und sein Zorn über Sünden immer gleich groß sein, egal welche Sünde wir begehen. Genauso wichtig ist der Umstand, dass unsere Beziehung zu Gott – durch die Überführung des Heiligen Geistes – durch alle Sünden in gleicher Weise in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Die meisten Christen wissen, was es heißt, wenn das Gewissen durch unbekannte Sünde niedergedrückt ist. Aber dieses Gebeugtsein kommt normalerweise von den Sünden, die wir selber ziemlich schlimm finden. Wenn es jedoch wahr sein sollte, dass alle Sünden gleich sind in Gottes Augen, dann sollte jemand, der nach dieser Theologie lebt, geistlich gleichermaßen beunruhigt und bußfertig vor Gott sein, wenn er die Geschwindigkeitsbegrenzung leicht übertritt, wie wenn er Ehebruch begeht. Schlussendlich ist selbst die Überschreitung der Geschwindigkeitsbegrenzung – auch bei nur einem Kilometer pro Stunde – eine Gesetzesübertretung; und das Gesetz zu brechen ist Sünde (vgl. Röm 13).

Aber keiner von uns denkt so. Wir alle betrachten eine Geschwindigkeitsüberschreitung als Bagatelle. Offensichtlich bezeugt uns unser Gewissen, dass es nicht so gravierend ist wie andere Dinge. Auch unser Sündenbekenntnis vor Gott ist entsprechend anders. Entweder ist es so oder aber das Vermögen unserer Theologie, wirklich effektiv unseren Glauben und unser Denken zu beeinflussen, ist in dieser Situation unzureichend.

Ein biblischer Test

Des Weiteren denke ich – und das ist noch entscheidender –, dass es biblisch ist und deshalb gesagt werden muss, dass manche Sünden in den Augen Gottes schwerwiegender sind als andere. Das führt aber auch zu der politisch inkorrekten Unterstellung, dass einige Menschen größere Sünder sind als andere. Auch wenn Protestanten mit der Theologie hinter der römisch-katholischen Unterscheidung zwischen Todsünden und lässlichen Sünden nicht übereinstimmen, so gibt es in der Schrift doch zahlreiche Beispiele, bei denen die Schwere von Sünden unterschieden wird.

  1. Christus sagt zu Pilatus, dass die jüdischen Anführer eine schwerere Sünde begangen haben als er, denn „der mich dir überantwortet hat, der hat größere Sünde“ (Joh 19,11, eigene Hervorhebung).
  2. Bestimmte Sünden im Gesetz werden in einem bestimmten Kontext herausgehoben und als ein Gräuel vor Gott dargestellt, was impliziert, dass andere nicht so schwerwiegend sind (z. B. 3Mose 18,22; 5Mose 7,25; 23,18; Jes 41,24).
  3. Die Lästerung des Heiligen Geist wird als gravierender herausgehoben als die Lästerung des Sohnes (vgl. Mt 12,31).
  4. Sprüche 6,16–19 zeigt eine Aufzählung von ganz bestimmten Sünden und hebt sie auf diese Weise besonders hervor. Aufgrund ihrer verdorbenen Natur werden sie damit von anderen Sünden abgegrenzt.
  5. Es gibt unterschiedliche Strafmaße in der ewigen Verdammnis, die von dem Schweregrad des Verstoßes abhängen (vgl. Lk 12,47–48).
  6. Christus hat die Sünden der Pharisäer oft als größer bewertet als die Sünden anderer. Er sagt etwa: „die ihr die Mücke aussiebt, das Kamel aber verschluckt“ (Mt 23,24). Wenn alle Sünden gleich wären, dann würde diese Zurechtweisung überhaupt keinen Sinn ergeben (siehe auch Lk 20,46–47).
  7. In ähnlicher Weise hat Christus von dem „Wichtigere[n] im Gesetz“ (Mt 23,23) gesprochen. Wenn alle Sünden gleich wären, dann gäbe es kein Gesetz (oder eine Gesetzesübertretung), die gewichtiger wäre als andere. Alle Gesetze hätten dann die gleiche Wichtigkeit.
  8. Unversöhnlichkeit wird fortwährend beschrieben als besonders abscheuliche Sünde (Mt 6,14–15; 18,23–35).
     

Warum glauben einige Christen, dass alle Sünden gleich sind?

Wo kommt diese volkstümliche Theologie also her? Die meisten Leute würden Bezug nehmen auf die Bergpredigt. Besonders Matthäus 5,27–28 wird gern als Rechtfertigung für diese Art des Denkens herangezogen. Dort lesen wir: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: ‚Du sollst nicht ehebrechen!‘ Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, um sie zu begehren, der hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“ (Mt 5,27–28).

„Es geht hier darum, dass das Prinzip eines Gesetzes gebrochen wird, nicht darum, in welchem Ausmaß es gebrochen wird.“
 

Gibt es in den Augen Gottes einen Unterschied zwischen dem Ehebruch im Herzen und dem tatsächlichen Ausüben des Ehebruchs? Selbstverständlich! Wenn wir irgendetwas anderes behaupten, dann schaden wir meines Erachtens dem Charakter Gottes und animieren zu der Tat auf der Basis dessen, was schon vorher gedanklich stattgefunden hat. Der eigentliche Punkt, den Christus in Matthäus 5,28 herausstellt, ist nicht, dass begehrliche Lust und der tatsächliche Akt des Ehebruchs gleich sind, sondern dass bei beiden das gleiche Gebot übertreten wird, auch wenn das Ausmaß dieser Übertretung jeweils unterschiedlich ist. Christus wollte auf diese Weise den Leuten und vor allem dem religiösen Establishment jener Zeit erklären, dass, trotz ihrer gefühlten Sicherheit aufgrund der Einhaltung des buchstäblichen Gesetzes, das Gesetz eigentlich viel tiefer geht. Es kommt auf den Geist des Gesetzes an. Wenn du also jemals sündige Begierde verspürt hast, hast du das sechste Gebot übertreten. Wenn du jemals Hass auf deinen Bruder verspürt hast, hast du das fünfte Gebot übertreten (vgl. Mt 5,22). Aber nochmal: Es geht hier darum, dass das Prinzip eines Gesetzes gebrochen wird, nicht darum, in welchem Ausmaß es gebrochen wird.

Das ist das gleiche Argument, das auch Jakobus in Jakobus 2,10 gebraucht, wenn er sagt: „Denn wer das ganze Gesetz hält, sich aber in einem verfehlt, der ist in allem schuldig geworden.“ Er macht hier nicht alle Sünden gleich, aber er zeigt auf, dass jedwede Verletzung des Gesetzes, egal wie klein sie sein mag, immer eine Übertretung des ganzen Gesetzes ist, weil durch die inhaltliche Verzahnung immer das gesamte Gesetz betroffen ist.

Die Absurdität eines solchen Denkens

Hier ein weiterer Gegenbeweis: Wenn du glaubst, dass Ehebruch und sündige Lust in Gottes Augen gleich sind, dann hat das folgende Konsequenzen: Jeder Mann oder jede Frau kann auf der Basis von Matthäus 5,32, wo Christus die Ehescheidung mit Ausnahme im Fall von ehelicher Untreue verurteilt, eine Scheidung rechtfertigen. Alles, was der Mann oder die Frau zu tun hat, ist die sichere Behauptung aufzustellen, dass der Ehepartner im Verlauf ihrer Ehe irgendwie einmal sündige Lust verspürt hat. Dies würde ihre Scheidung biblisch legitimieren. Ein weiteres Beispiel wäre, zu sagen, dass ein Mann, der beim Surfen im Internet gegenüber einer Frau unsaubere Gedanken hat, dann auch gleich mit ihr realen Ehebruch begehen könnte, denn in den Augen Gottes hat er es ja eh schon getan. Oder wenn du jemals begehrliche Gedanken gegenüber einer Frau hattest (dich z. B. nach einer Frau umgedreht hast), dann stündest du unter Gottes Anordnung, sie zu heiraten, denn in Gottes Augen wärst du ja bereits eins mit ihr (vgl. 1Kor 6,16).

Ich denke, dass diese Art und Weise zu denken nicht nur biblisch falsch ist, sondern zudem zu einem verzerrten Weltbild führt und die Integrität Gottes und das Evangelium von Christus in Verruf bringt.

Kurz zusammengefasst

Es stimmt. Alle Menschen sind Sünder (vgl. Röm 3,23). Alle Menschen sind Sünder von Geburt an. Aber nicht alle Sünden sind gleich.

Ich denke, um es in aller Demut und gleichzeitig akkurat in Übereinstimmung mit dem biblischen Zeugnis wiederzugeben, kann man es wie folgt zusammenfassen:

Obwohl nicht alle Menschen in gleichem Ausmaß sündigen, so haben wir doch alle an der gleichermaßen verderbten Natur Anteil.

Mit anderen Worten: Keiner ist weniger sündig aufgrund irgendeiner innewohnenden Rechtschaffenheit, infolge derer er sich rühmen könnte. Alle Menschen haben das gleiche Potenzial an Verderbtheit, weil wir alle Söhne Adams sind und die gleiche Verderbtheit teilen; selbst wenn wir nicht – durch Gottes Gnade – unsere Sünde im gleichen Ausmaß ausleben.

„Obwohl nicht alle Menschen in gleichem Ausmaß sündigen, so haben wir doch alle an der gleichermaßen verderbten Natur Anteil.“
 

Wenn du damit nicht einverstanden bist, dann denke einmal wirklich darüber nach, was du damit über Gott aussagst. Du sagst zu einer ungläubigen Welt, dass dein Gott genauso zornig darüber ist, wenn du mit dem Auto etwas schneller fährst als erlaubt, wie über den Sexualmord an einem sechsjährigen Mädchen. Willst du das wirklich behaupten? Denkst du wirklich, dass diese Sichtweise ausreichend biblisch gestützt wird und dadurch zu rechtfertigen ist? Kannst du diese Sicht fundiert verteidigen? Wenn die Bibel das so lehrt, dann okay. Wir richten uns ja nach der Bibel und nicht nach unseren Gefühlen oder unserem Geschmack. Aber ich denke nicht, dass man wirklich eine fundierte Argumentation dafür, dass unsere Theologie solch eine Position vertritt, aufrechterhalten kann. Ich kann mir wenige Dinge in der modernen evangelikalen Theologie vorstellen, die zu einem größeren Ausmaß falsch sind, die mehr Schaden anrichten oder den Charakter Gottes und die Natur der Sünde umfassender entstellen.

Entsprechend habe ich dann auch in meiner Ordinationsprüfung geantwortet. Ich war sehr erleichtert, als ich die Zustimmung des Ordinationskomitees bemerkte. Sie hatten alle die Sorge, dass ich einer von denen sein könnte, der – trotz der Ausbildung am Seminar – an dem festgehalten hätte, was die meisten Evangelikalen glauben. Ich habe mich oft gefragt, ob sie mich hätten bestehen lassen, wenn ich entsprechend heutigem evangelikalen Mainstream geantwortet und behauptet hätte, dass alle Sünden in den Augen Gottes gleich seien. Ich hoffe nicht.

Andere, die zum gleichen Ergebnis kommen, sind übrigens:

Michael Kruger
J. I. Packer
John Piper
Sean McDowell
R.C. Sproul