Der erste Zürcher Reformator

Das Leben von Huldrych Zwingli

Buchauszug von Steven J. Lawson
21. September 2017 — 12 Min Lesedauer

Neben Martin Luther, Heinrich Bullinger und Johannes Calvin war Huldrych Zwingli der wichtigste frühe Reformator. Als Reformator der ersten Generation wird er als Begründer des Schweizer Protestantismus erachtet. Außerdem ist er als erster reformierter Theologe in die Geschichte eingegangen. Obwohl Calvin ihn später als Theologe überflügelte, würde er doch immer auf Zwinglis breiten Schultern stehen.

Weniger als zwei Monate, nachdem Luther das Licht der Welt erblickte, wurde Zwingli am 1. Januar 1484 in Wildhaus, einem kleinen Dorf im östlichen Teil der modernen Schweiz, ungefähr vierzig Meilen von Zürich, geboren. Sein Vater, Huldrych Senior war vom Bauernstand zu einem Mann der oberen Mittelschicht aufgestiegen: sowohl als erfolgreicher Bauer und Hirte wie auch als der führende Friedensrichter seines Gebiets. Dieser Wohlstand erlaubte es ihm, seinem Sohn eine ausgezeichnete Ausbildung zu ermöglichen. Er führte einen Haushalt an, in welchem dem jungen Ulrich typisch schweizerische Werte vermittelt wurden: ein robustes Unabhängigkeitsgefühl, starker Patriotismus, eine Leidenschaft für die Religion und ein echtes Interesse an Gelehrsamkeit.

Huldrych Senior erkannte früh die intellektuellen Fähigkeiten seines Sohnes und sandte ihn zu seinem Onkel, einem früheren Priester, um Lesen und Schreiben zu lernen. Dank seines Wohlstands war es Zwinglis Vater möglich, ihm noch weiterführende Bildung zu ermöglichen. Im Jahr 1494 sandte er den zehnjährigen Ulrich zu dem Äquivalent eines Gymnasiums nach Basel, wo er Latein, Dialektik und Musik lernte. Er machte solch rapide Fortschritte, dass ihn sein Vater 1496 oder 1497 nach Bern transferierte, wo er sein Studium unter dem bekannten Humanisten Heinrich Wölfli fortsetzte. Hier wurde Zwingli mit den Gedanken und scholastischen Methoden der Renaissance konfrontiert. Seine Talente fielen den dominikanischen Mönchen auf, die ihn für ihren Orden rekrutieren wollten, aber Zwinglis Vater wollte nicht, dass sein Sohn ein Ordensbruder wird.

Universitäten von Wien und Basel

Im Jahr 1498 sandte sein Vater ihn zur Universität in Wien, die ein Zentrum klassischer Bildung wurde, wo die Scholastik durch humanistische Studien ersetzt wurde. Dort studierte er Philosophie, Astronomie, Physik und antike Klassiker. 1502 schrieb er sich in der Universität von Basel ein und erhielt eine ausgezeichnete humanistische Bildung. In einer Klasse wurde er dem Einfluss von Thomas Wyttenbach, einem Professor für Theologie, ausgesetzt und wurde sich der Missstände in der Kirche bewusst. Er lernte weiterhin Latein und setzte sein Studium der Klassik fort. Er erlangte einen Bachelor- (1504) und Masterabschluss (1506) an dieser Universität.

Zwingli wurde in die Priesterschaft der römisch-katholischen Kirche ordiniert und erwarb umgehend ein Pastorat bei Glarus, der Kirche aus seiner Kindheit. Einem Prinzen Geld für eine Stelle in der Kirche zu bezahlen war eine gängige Praxis vor der Reformation. Er verbrachte seine Zeit mit Predigen, Lehren und Hüten der Gemeinde. Er widmete sich auch ausgedehntem privaten Studium, brachte sich selbst Griechisch bei und studierte die Kirchenväter und die antiken Klassiker. Er war fasziniert von den heidnischen Philosophen und Dichtern der Antike. Sehr bedeutsam sollte sein Studium der Schriften von Desiderius Erasmus werden, von dessen Gelehrsamkeit und Frömmigkeit er sehr beeindruckt war. Dies löste eine von ihm sehr geschätzte Briefkorrespondenz mit Erasmus aus.

Während seines Dienstes in Glarus von 1506 bis 1516 diente Zwingli zweimal als Kaplan für einzelne Gruppen von Schweizer Söldnern. Soldaten aus der Schweiz, die man anheuern konnte, waren in ganz Europa sehr gefragt und bildeten eine wichtige Einkommensquelle für die Schweizer Kantone. Selbst der Papst hatte eine Schweizer Garde. Aber diese Praxis kostete auch vielen der besten jungen Schweizer Männer das Leben. Als Kaplan musste Zwingli oft zusehen, wie sie miteinander kämpften; Schweizer, die andere Schweizer auf fremdem Boden für fremde Herrscher umbrachten. Er war unzählige Male gezwungen, die letzte Ölung anzuwenden. Die Schlacht bei Marignano (1515) kostete fast zehntausend Schweizern das Leben. Zwingli bereute das Böse in diesem System und fing an, dagegen zu predigen.

Sein letztes Jahr in Glarus sollte sehr entscheidend werden. Es war zu dieser Zeit, dass Zwingli zu einem evangelikalen Verständnis der Schrift kam. Erasmus veröffentlichte in diesem Jahr das Griechische Neue Testament und Zwingli verschlang es; es wird gesagt, dass er die Briefe des Paulus in der Originalsprache auswendiglernte. Dies geschah wenig mehr als ein Jahr bevor Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug. Durch das Studium der Schriften und ohne Kenntnis der Gedanken Luthers, fing Zwingli an, die gleiche Botschaft zu predigen, die Luther bald darauf verkünden würde. Er schrieb: „Bevor irgendjemand in der Region jemals von Luther gehört hatte, fing ich an, das Evangelium von Christus im Jahr 1516 zu predigen… . Ich predigte das Evangelium bevor ich je Luthers Namen gehört hatte… . Luther, dessen Namen ich noch für zwei Jahre nicht kennen würde, hatte mich definitiv nicht gelehrt. Ich folgte der Schrift allein.“

Beliebter Prediger in Einsiedeln

Aufgrund von politischem Druck und wegen seiner Predigten gegen die Kämpfe der Söldner war Zwingli gezwungen, Glarus 1516 zu verlassen. Er diente bis zum Jahr 1518 als Priester im benediktinischen Kloster zu Einsiedeln. Einsiedeln war eine Pilgerstätte, die bekannt war für ihren Schrein für die Jungfrau Maria. Dieser Schrein zog eine große Zahl Pilger aus allen Teilen der Schweiz und darüber hinaus an. Diese große Zuhörerschaft vernahm die Predigten Zwinglis, wodurch seine Bekanntheit und sein Einfluss wuchsen.

Einsiedeln war kleiner als Glarus, deshalb waren seine Verpflichtungen geringer. Dies ermöglichte ihm mehr Zeit, die Schrift und die Kirchenväter zu studieren. Er las die Werke von Ambrosius, Hieronymus, Chrysostomos und Augustinus, außerdem die Schriften von Erasmus. Ferner kopierte er von Hand das Griechische Neue Testament von Erasmus. Indem er sich als bekannter Prediger hervortat, fing er auch an, einige Missstände der Kirche zu kritisieren, insbesondere den Ablasshandel, und seine Predigten bekamen einen immer evangelikaleren Ton. Aber, Zwingli sah noch nicht die Notwendigkeit für Veränderung in den Glaubenssätzen der Kirche. Stattdessen dachte er, dass Reform vornehmlich auf institutioneller und moralischer Ebene stattfinden sollte. Er gründete seine Predigten zudem immer noch mehr auf die Kirchenväter als auf die Schrift. Er war noch nicht bereit für das Werk der Reformation.

Im Dezember 1518 verschaffte der wachsende Einfluss Zwingli eine Stelle als Volkspriester im Grossmünster (der großen Kathedrale) von Zürich. Dieses Pastorat war eine bedeutsame Stelle. Zwingli brach sofort mit der normalen Praxis, gemäß dem Kirchenkalender zu predigen. Stattdessen gab er bekannt, dass er sequentiell durch ganze Bücher der Bibel predigen würde. Am 1. Januar 1519, seinem 55. Geburtstag, begann Zwingli eine Serie von Auslegungspredigten durch das Matthäusevangelium, die auf seiner Exegese des griechischen Textes beruhten. Er setzte diesen sequentiellen Stil fort, bis er durch das ganze Neue Testament gepredigt hatte. Dieses ambitionierte Projekt benötigte sechs Jahre und legte den Grundstein für die Reformation, die folgen sollte.

Im Herbst 1519 erlitt Zürich einen Pestausbruch. Zweitausend seiner siebentausend Einwohner starben. Zwingli entschied sich, in der Stadt zu bleiben, um sich um die Kranken und Sterbenden zu kümmern. In diesem Zusammenhang zog er sich selbst die Krankheit zu und verstarb fast. Seine dreimonatige Genesung lehrte ihn vieles über das Vertrauen auf Gott. Sein persönliches Opfer verstärkte seine Beliebtheit beim Volk.

Einführung von Reformen

Während Zwingli durch die Bibel predigte, legte er die Wahrheiten aus, die er in dem Text fand, selbst wenn sie sich von der historischen Tradition der Kirche unterschieden. Diese Art der direkten Predigt blieb nicht ohne Herausforderungen. Im Jahr 1522 weigerten sich einige Mitglieder gegen die Regel der Kirche über das Essen von Fleisch während der Fastenzeit. Zwingli unterstütze ihre Handlungen, weil sie sich auf die biblische Wahrheit der christlichen Freiheit stützten. Er erachtete solche Restriktionen als menschengemacht. Im gleichen Jahr verfasste er die erste seiner vielen reformatorischen Schriften, die seine Ideen in der ganzen Schweiz verbreiteten.

Im November 1522 begann Zwingli, mit anderen religiösen Leitern und dem Stadtrat zusammenzuarbeiten, um größere Reformen in der Kirche und im Staat durchzusetzen. Im Januar 1523 schrieb er 67 Thesen, in denen er viele mittelalterliche Glaubensvorstellungen verwarf, wie erzwungenes Fasten, das Zölibat der Kleriker, das Fegefeuer, die Messe und die Vermittlung der Priester. Außerdem hinterfragte er den Einsatz von Bildern in der Kirche. Im Juni 1524 unternahm Zwingli noch einen weiteren Reformschritt – er heiratete Anna Reinhard, eine Witwe. All dies schien sich abgespielt zu haben, bevor Zwingli jemals von Luther hörte. Es war wahrlich ein unabhängiges Werk Gottes.

Bis zum Jahr 1525 hatte die Reformationsbewegung in Zürich an Fahrt aufgenommen. Am 14. April 1525 wurde die Messe offiziell abgeschafft und protestantische Gottesdienste in und um Zürich eingeführt. Zwingli wollte nur das einführen, was in der Schrift gelehrt wurde. Alles, was nicht ausdrücklich durch die Schrift gestützt war, wurde abgelehnt. Die Worte der Schrift wurden in der Sprache des Volkes gelesen und gepredigt. Die gesamte Kirchengemeinde, nicht nur die Kleriker, empfingen sowohl Brot als auch Wein in einem einfachen Abendmahlsgottesdienst. Der Pfarrer trug Kleidung, die eher einer Vorlesungskleidung entsprach, als der eines katholischen Altars. Die Verehrung von Maria und den Heiligen wurde verboten, Ablässe verbannt und mit den Gebeten für die Toten aufgehört. Der Bruch mit Rom war vollständig.

Anabaptisten: Radikale Reformatoren

Zwingli setzte sich mit einer neuen Gruppe auseinander, bekannt als die Anabaptisten oder Wiedertäufer, die eine radikalere Reformbewegung waren und 1523 in Zürich begann. Obwohl Zwingli schon viele große Veränderungen eingeführt hatte, gingen sie diesen Gläubigen nicht weit genug. Für die Anabaptisten war die Überzeugung, dass nur Gläubige getauft werden sollten, an zweiter Stelle hinter dem Bruch mit der römisch-katholischen Kirche. Die Anabaptisten strebten nach einer vollständigen Rekonstruktion der Kirche, was einer Revolution gleichkam.

Zwingli sah in den Forderungen der Anabaptisten radikale Auswüchse. Als Antwort auf die Forderungen der Anabaptisten, die Kirche und die Gesellschaft unmittelbar zu überholen, drängte er auf Mäßigkeit und Geduld im Übergang von Rom. Er riet den Anabaptisten, ihre schwächeren Brüder zu ertragen, die langsam die Lehren der Reformatoren annahmen. Jedoch führte dieser Ansatz dazu, dass sich der Konflikt zwischen Zwingli und den Radikalen nur vergrößerte.

Ein Befehl der Stadtführer Zürichs, dass alle Säuglinge der Stadt getauft werden müssten, erwies sich als zu explosiv. Die Anabaptisten antworteten darauf, indem sie unter lauten Protesten durch die Straßen Zürichs marschierten. Statt ihre Säuglinge zu taufen, tauften sie sich 1525 gegenseitig durch Besprengen oder Untertauchen. Sie lehnten auch das Bekenntnis Zwinglis zur Autorität des Stadtrats über kirchliche Belange ab und plädierten für eine vollkommene Trennung zwischen Kirche und Staat.

Die Führer der Anabaptisten wurden festgenommen und angeklagt, revolutionäre Lehren zu vertreten. Einige wurden durch Ertränken hingerichtet. Es ist nicht bekannt, ob Zwingli den Todesurteilen zustimmte, aber er setzte sich gegen sie nicht zur Wehr.

Die Kontroverse um das Abendmahl

In der Zwischenzeit entfachte sich eine Auseinandersetzung zwischen Zwingli und Luther über das Abendmahl. Luther vertrat die Sicht der Konsubstantiation, die davon ausgeht, dass der Leib und das Blut Christi in, durch und unter den Elementen des Abendmahls präsent sind. Es gibt, so Luther, eine Realpräsenz Christi in den Elementen, die sich jedoch von der römisch-katholischen Lehre der Transsubstantiation unterscheidet, bei der geglaubt wird, dass die Elemente sich in den Leib und das Blut Christi verwandeln, wenn sie durch den Priester während der Messe gesegnet werden. Zwingli vertrat die Position, dass das Abendmahl hauptsächlich ein Gedenkmahl auf den Tod Christi ist – eine symbolische Erinnerung.

In einem Versuch, Einheit in der reformatorischen Bewegung zu schaffen, wurden die Marburger Religionsgespräche im Oktober 1529 anberaumt. Die zwei Reformatoren begegneten sich von Angesicht zu Angesicht, zusammen mit Martin Bucer, Philip Melanchthon, Johannes Oecolampadius und weiteren protestantischen Führern. Sie einigten sich im Prinzip bei vierzehn der fünfzehn Grundsätze, die vor sie gelegt wurden: das Verhältnis von Kirche und Staat, Säuglingstaufe, die historische Einheit der Kirche und andere mehr. Aber es konnte keine Einigung über das Abendmahl erzielt werden. Luther sagte, dass „Zwingli ein sehr guter Mensch, aber von einem anderen Geist, sei und deshalb die Hand der Gemeinschaft ausschlug, die ihm unter Tränen gereicht wurde.“ Zu seinen Kollegen sagte Luther über Zwingli und dessen Unterstützer: „Ich nehme an, dass Gott sie verblendet hat.“

Durch eine merkwürdige Ironie der Geschichte starb Zwingli, der früher die Praxis der Söldnerkriege abgelehnt hatte, 1531 auf einem Schlachtfeld. Ein eskalierender Konflikt zwischen den Protestanten und Katholiken führte zur Bewaffnung des Kantons und bald zum Krieg. Die Stadt Zürich zog in den Kampf, um sich gegen fünf angreifende katholische Kantone aus dem Süden zu verteidigen. Zwingli begleitete die Armee Zürichs als Kaplan in die Schlacht. In Rüstung eingekleidet und mit einer Schlachtaxt bewaffnet, wurde er am 11. Oktober 1531 schwer verwundet. Als feindliche Soldaten ihn verwundet liegend fanden, töteten sie ihn. Die südlichen Mächte behandelten seinen Leichnam auf eine schamvolle Weise. Sie vierteilten ihn, hackten die Überreste in Stücke und verbrannten sie, worauf sie seine Asche mit Kot vermischten und zerstreuten.

Heute gibt es eine Statue von Zwingli, die an einer markanten Stelle bei der Wasserkirche in Zürich aufgestellt ist. Er steht mit einer Bibel in einer Hand und mit einem Schwert in der anderen. Die Statue repräsentiert Zwingli in seinem beherrschenden Einfluss über die Schweizer Reformation, stark und entschlossen. Obwohl sein Dienst in Zürich relativ kurz war, erreichte er viel. Durch seinen heroischen Einsatz für die Wahrheit reformierte Zwingli die Kirche in Zürich und bereitete den Weg für andere Reformatoren, die folgen sollten.