Bullinger, Hirte aller christlichen Kirchen

Das Leben von Heinrich Bullinger

Buchauszug von Steven J. Lawson
5. Oktober 2017 — 11 Min Lesedauer

Heinrich Bullinger (1504-1575) wird als einflussreichster Reformator der zweiten Generation erachtet. Als Erbe von Huldrych Zwingli in Zürich konsolidierte er die Schweizer Reformation und setzte fort, was sein Vorgänger angefangen hatte. Philip Schaff schreibt, dass Bullinger „ein Mann mit festem Glauben, Mut, Mäßigung, Geduld und Durchhaltevermögen war … der von der Vorsehung ausgerüstet war“, um die Wahrheit in einer schwierigen Zeit zu bewahren und zu verbreiten. Während seiner vierundvierzig Jahre als Hauptpfarrer in Zürich übertraf der literarische Output von Bullinger den von Martin Luther, Johannes Calvin und von Zwingli zusammen. Er hatte monumentale Bedeutung für die Ausbreitung der reformierten Lehre in der Reformation. So weitreichend war Bullingers Einfluss innerhalb Kontinentaleuropas und Englands, dass Theodor von Beza ihn „den gemeinsamen Hirten aller christlichen Kirchen“ nennen konnte.

Bullinger wurde am 18. Juli 1504 in einer winzigen Schweizer Stadt namens Bremgarten geboren, zehn Meilen westlich von Zürich. Sein Vater, der auch Heinrich hieß, war der Ortspfarrer, der in einer Ehe nach dem Gemeinrecht mit Anna Wiederkehr lebte. Diese Praxis war offiziell von der römisch-katholischen Hierarchie verboten, aber Bullingers Vater hatte eine Erlaubnis für diese Beziehung bekommen, indem er dem Bischof eine jährliche Abgabe zahlte. Der jüngere Heinrich war das fünfte Kind aus dieser illegitimen Beziehung. Die Ehe von Bullingers Eltern wurden schließlich 1529 förmlich anerkannt, als der Vater sich der reformierten Bewegung anschloss.

Heinrich Senior zog seinen Sohn von frühester Kindheit mit Blick auf die Priesterschaft auf. Mit zwölf Jahren wurde er zur Mönchsschule nach Emmerich geschickt, die als Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben bekannt war. Diese Schule war eine Hochburg des via antique, das heißt des „alten Weges“ des Lernens, der von den Theologen des Hochmittelalters, wie Thomas von Aquin (1225-1274) und Johannes Duns Scotus (ca. 1265-1308), betont wurde. Dort empfing Bullinger eine tiefgehende Bildung in humanistischen Prinzipien, insbesondere Latein. Zur gleichen Zeit kam er unter den Einfluss der devotio moderna, der „modernen Andacht“, einer mittelalterlichen Betonung auf das Abendmahl und ein tieferes, geistliches Leben. Augustinus und Bernard von Clairvaux waren unter den frühen Führern dieser pietistischen Bewegung, und sie wurde durch Thomas von Kempen mit seinem Buch Nachfolge Christi neu belebt. Bullinger wurde durch die Betonung dieser Bewegung auf Meditation und auf die Suche nach einer persönlich, geistlichen Erfahrung Gottes angezogen. Darüber hinaus begann Bullinger zu dieser Zeit, eine erstaunliche Begabung für Gelehrsamkeit zu zeigen.

Die Universität von Köln

Drei Jahre später, im Jahr 1519, wechselte Bullinger zur Universität von Köln, wo er mit dem Studium der traditionellen, scholastischen Theologie begann. Köln war die größte Stadt in Deutschland, fest in römisch-katholischer Hand – der Aberglauben des Papismus erfüllte die Stadt und deutsche Mystiker versammelten sich hier in großer Zahl. Aquinas und Scotus hatten früher hier gelehrt und ihr scholastischer Einfluss blieb in Köln fest verwurzelt. Aber Bullinger war überzeugt von dem humanistischen Ansatz. In seinen Studien konzentrierte er sich auf die Kirchenväter, insbesondere Ambrosius, Chrysostomos und Augustinus. Ihr Bestehen auf den Vorrang der Heiligen Schrift bewegte ihn, die Bibel selbst zu studieren. Solch ein Streben, bekannte er später, war den meisten seiner Mitstudenten fremd.

Während er in Köln war, wurde Bullinger der Lehre des führenden Humanisten seiner Zeit ausgesetzt, Desiderius Erasmus von Rotterdam (ca. 1466-1536). Erasmus erhob die Heilige Schrift über die aristotelische Logik und strebte nach Reform der Kirche durch humanistische Gelehrsamkeit und die moralischen Lehren Christi. Aber es waren die Werke Luthers, die das Denken von Bullinger am meisten herausforderten. Luthers Bücher wurden in Köln verbrannt, was das Interesse Bullingers in Bezug auf ihren Inhalt nur noch mehr anstachelte. Bald war sein Denken von Luthers Ideen gefangen. Er studierte außerdem Philip Melanchthons Loci communes (1521), die erste systematische Abhandlung der lutherischen Theologie. Darin behandelte Melanchthon die reformierten Kernlehren von der Knechtschaft des Willens und der Rechtfertigung durch Glauben allein. Dieses Werk beeinflusste Bullinger weiter. Die Samen der Reformation wurden in seinem Denken gesät. Mit 17 nahm er die Schüsselwahrheit an, dass Rechtfertigung allein durch Glauben in Christus allein geschenkt wird. Inmitten dieser persönlichen Transformation erlangte Bullinger seinen Master.

1522 kehrte Bullinger nach Bremgarten als neuer Mensch zurück. Er setzte sein beharrliches Studium der Heiligen Schrift fort zusammen mit dem Studium der Kirchenväter, Luther und Melanchthon. Im nächsten Jahr wurde er oberster Lehrer der Schule des Zisterzienserordens in Kappel. Von 1523 bis 1529 lehrte er den Mönchen aus dem Neuen Testament und stellte die reformierte Lehre vor. Unter seinem Einfluss ersetzte ein protestantischer Gottesdienst die Messe. Ferner wurden viele Mönche reformierte Pfarrer.

Bullinger nahm 1527 eine fünfmonatige Auszeit und machte eine Reise nach Zürich. Diese Reise sollte für ihn lebensverändernd werden. Er besuchte Vorlesungen von Zwingli und traf den Schweizer Reformator, wodurch eine Beziehung entstand, die eine tiefgreifende Auswirkung auf ihn und die Zukunft der Schweizer Reformation haben sollte. Er wurde berufen, Zwingli zu einer Disputation in Bern zu begleiten, die am 7. Januar 1528 eröffnet wurde. Zu diesem Anlass wurden die Zehn Thesen von Bern vorgestellt und angenommen. Durch all dies wurde Bullinger ein privilegierter Einblick in die Geschehnisse der Reformation ermöglicht. Im Anschluss machte Bullinger jährlich eine Reise nach Zürich um mit Zwingli über Theologie zu diskutieren. Durch diese enge Verbindung wurde Zwingli sich der Fähigkeiten Bullingers bezüglich der Heiligen Schrift bewusst. Obwohl keiner von beiden es zu dieser Zeit wusste, wurde Bullinger dazu vorbereitet, Zwinglis Nachfolger zu werden.

Pfarrer in Hausen und Bremgarten

Später im Jahr 1528 wurde Bullinger Teilzeitpfarrer der Dorfkirchen in Hausen, in der Nähe von Kappel. Er hielt seine er seine erste Predigt am 21. Juni, wodurch ein Gemeindedienst begann, der es ihm erlaubte, seine Predigtgaben weiter zu entwickeln. Im folgenden Jahr erklärte Heinrich Senior öffentlich seine Annahme der reformierten Lehre und begann mit einer Reform seines Pfarrbezirks in Bremgarten. Jedoch musste Bullingers Vater von seiner Stelle aufgrund von Widerstand der Gemeindemitglieder zurücktreten. Durch eine ungewöhnliche Fügung wurde der junge Bullinger Nachfolger seines Vaters als Pfarrer der Gemeinde. Er setzte die biblische Reform fort, die sein Vater begonnen hatte, und wurde als Reformator von Bremgarten bekannt.

Weil er sich nach einer Ehefrau sehnte, reiste Bullinger 1529 zu einem früheren dominikanischen Kloster in Oetenbach, nachdem er hörte, dass die Nonnen reformiert geworden sind. Das Nonnenkloster hatte sich aufgelöst, aber zwei Frauen waren geblieben, um Zeugen für den Protestantismus zu sein. Eine von ihnen war Anna Adischwyler, eine hingegebene Gläubige. Bullinger bat sie um ihr Hand und sie willigte ein. Im Laufe der Jahre hatten sie elf eigene Kinder und weitere Adoptivkinder. Bemerkenswerterweise wurde alle sechs ihrer Söhne protestantische Pfarrer.

Für die nächsten zwei Jahre half Bullinger, die reformierte Lehre durch seinen Kanzeldienst und seinen beginnenden, ausgiebigen Schreibdienst zu verbreiten. Zu dieser Zeit fing er mit einer langen Serie von Kommentaren zu den Büchern des Neuen Testaments an.

Da sich die protestantischen Glaubensartikel in der Schweiz verfestigten, erhob sich bald der römisch-katholische Widerstand. Fünf katholische Kantone, die durch das Heraufkommen des Protestantismus in Zürich alarmiert waren, erklärten dieser reformierten Hochburg im Oktober 1531 den Krieg. Kein protestantischer Kanton bot Zürich irgendeinen Beistand an. Am 11. Oktober wurden die Protestanten in der Schlacht bei Kappel aus dem Hinterhalt angegriffen und Zwingli, der als Militärkaplan diente, getötet. Zürich wurde gezwungen, die ungünstigen Friedensbedingungen zu akzeptieren. Einige Regionen der Schweiz, einschließlich Bremgarten, kehrten zum Katholizismus zurück.

Bullinger, ein bekannter protestantischer Führer, wurde in Bremgarten mit dem Schafott bedroht. Er floh nach Zürich, wo er drei Tage später dazu überredet werden konnte, von Zwinglis leerer Kanzel zu predigen. Die Predigt von Bullinger war so mächtig, dass die Leute ausriefen, dass er die Rückkehr Zwinglis sein müsse. Oswald Myconius, ein Nachfolger Zwinglis, sagte: „Wie der Phönix, ist er [Zwingli] wieder aus der Asche auferstanden.“ Es war äußert wichtig für die Schweizer Kirchen, dass Zwingli durch einen Mann mit den gleichen reformierten Überzeugungen und reichhaltiger Energie für das Werk des Herrn ersetzt wurde. In Bullinger fanden sie diesen Mann.

Hauptpfarrer von Zürich

Sechs Wochen später, am 9. Dezember 1531, als Bullinger gerade erst 27 Jahre alt war, wurde er einstimmig vom Stadtrat Zürichs und den Bürgern zum Nachfolger Zwinglis gewählt. Nachdem der Stadtrat zustimmte, den Kirchenführern Freiheit der Predigt über alle Aspekte des Lebens in der Stadt zu gewähren, nahm Bullinger die Stelle an. Er wurde der antistes – „Hauptpfarrer“ – der Stadt. Dadurch übernahm er die Führung der reformierten Bewegung in der deutschsprachigen Schweiz. Am 23. Dezember übernahm er die Kanzel des Grossmünster, eine Stelle die er für 44 Jahre bis zu seinem Tod 1575 innehatte. In dieser Rolle übersah Bullinger die anderen Kirchen der kantonalen Synode als eine Art „reformierter Bischof“. Er war auch verantwortlich für die Reform des Schulsystems.

Bullinger war ein unermüdlicher Prediger. Für die ersten zehn Jahre seines Dienstes in Zürich predigte er sechs oder sieben Mal pro Woche. Nach 1542 predigte er zweimal pro Woche, an Sonntagen und Freitagen, was ihm erlaubte, sich einem rigorosen Schreibdienst zu widmen. Bullinger folgte Zwingli in der lectio continua Methode des Predigens, wobei er sich Vers für Vers durch ganze Bücher der Heiligen Schrift bewegte. Seine Auslegungspredigten waren biblisch, einfach, klar und praktisch. Zusammengenommen wird davon ausgegangen, dass Bullinger in Zürich zwischen 7000 und 7500 Predigten hielt. Diese Auslegungen wurden zur Grundlage seiner Kommentare, die einen Großteil der Bibel abdecken.

Bullinger war außerdem ein großherziger Pfarrer. Sein Haus war offen für Witwen, Waisen, Fremde, Flüchtlinge und verfolgte Brüder. Er gab freizügig Nahrung, Kleidung und Geld an Menschen in Not. Bullinger sicherte der Witwe Zwinglis sogar eine Altersversorgung und bildete Zwinglis Kinder mit seinen eigenen Söhnen und Töchtern gemeinsam aus. Er war ein hingegebener Pfarrer, der eines der ersten protestantischen Bücher über den Trost der Kranken und Sterbenden produzierte. Viele der verfolgten Gläubigen, die von der Schreckensherrschaft Maria I. in England nach Zürich flohen, fanden Zuflucht in Bullingers offenen Armen. Nachdem sie nach Hause zurückgekehrt waren, wurden viele dieser Geflüchteten führende englische Puritaner.

Als ein Mann von bemerkenswerten theologischen Fähigkeiten half Bullinger als Mitautor des Ersten Helvetischen Bekenntnisses (1536) und spielte eine Schlüsselrolle im Consensus Tigurinus (1549). Das erstere war das erste nationale Schweizer Bekenntnis; das letztere war ein Versuch von Calvin und Bullinger, die protestantischen Meinungsverschiedenheiten über das Abendmahl beizulegen. Während der Diskussionen über dieses Dokument lud Bullinger Calvin für Gespräche von Angesicht zu Angesicht nach Zürich ein. Calvin nahm die Einladung an. Am 20. Mai 1549 reisten er und Guillaume Farel nach Zürich, wo sie Bullinger trafen. Calvin und Bullinger erzielten ein Einverständnis über die Sakramente, welches die reformierten Bestrebungen in Genf und Zürich vereinte. Durch diese konfessionellen Dokumente half Bullinger, die Schweiz während des Beginns ihrer Reformationepoche aufzurütteln. Er stritt gegen die lutherische Lehre der Konsubstantiation im Abendmahl und widerlegte die anabaptistische Tauflehre. Er blieb jedoch gegenüber verschiedenen radikalen Bewegungen aufgeschlossen.

Während dieser Zeit wurde Bullinger von Mitgliedern des englischen Königshauses konsultiert, einschließt Eduard VI. (1550) und Elisabeth I. (1566). Er erachte die Führer der Kirche von England als reformierte Mitchristen, die gemeinsam gegen Rom ankämpften. Teile seines Buches Dekaden waren Eduard VI. und Lady Jane Grey gewidmet. Auf einer breiteren Ebene unterhielt er Korrespondenz mit den reformierten Führern in der ganzen protestantischen Welt, einschließlich Philipp I. Sein weiser und ausgeglichener Rat gab vielen in der reformierten Bewegung dringend benötigte Wegweisung.

In den letzten Jahren von Bullingers Leben durchlitt er den tragischen Tod seiner Frau Anna und mehrerer seiner Töchter. Ihre Leben wurden durch Ausbrüche der Pest 1564 und 1565 dahingerafft. Bullinger selbst wurde während des zweiten Ausbruchs ernsthaft krank. Obwohl er den Ausbruch überlebte, blieb seine Gesundheit schwach und er starb am 17. September 1575, nach vier Jahrzehnten unermüdlichen und effektiven Dienstes. Er hinterließ ein reiches Vermächtnis in den Wahrheiten der souveränen Gnade, das dabei half, der Reformation theologische und kirchliche Ordnung zu verleihen.