Wogegen sind Protestanten?

Artikel von Albert Mohler
7. Oktober 2017 — 5 Min Lesedauer

Ist die Reformation vorbei? Ist sie, wie manche suggeriert haben, ein fehlgeschlagenes Projekt? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zur Reformation und zu ihren Kernüberzeugungen zurückkehren. Wir müssen uns daran erinnern, dass die Reformation im Kern weder eine politische noch eine soziale Bewegung war, sondern eine theologische. Die Reformation wurde durch Martin Luthers Hingabe an sola Scriptura geboren – „das materielle Prinzip“ der Reformation. Sola Scriptura bekräftigte, dass die Bibel allein die letzte, unfehlbare Autorität für Leben und Lehre ist. Diese Hingabe an die Schrift formte die Kontouren der reformatorischen Überzeugungen. Es war diese Hingabe an die ultimative Autorität der Heiligen Schrift, die den Reformatoren den Mut verlieh, sich in ihrer Verkündigung des Evangeliums von Rom zu trennen.

Wahres Christentum und wahre Evangeliumsverkündigung hängen von einer festen Hingabe an die Autorität der Heiligen Schrift ab. Deshalb stehen seit der Zeit der Reformation die Inspiration, Irrtumslosigkeit und Autorität der Schrift unter ständigem Angriff. In der Aufklärung konfrontierten die Philosophen der Moderne Descartes, Locke und Kant die westliche Kultur mit einer Reihe von Fragen, die schließlich die Auffassung von Wahrheit im westlichen Denken transformierten. Das Ergebnis war ein totalitäres Aufzwingen des wissenschaftlichen Modells von Rationalität auf alle Wahrheitsansprüche; die Behauptung, dass nur wissenschaftliche Daten objektiv verstanden, objektiv definiert und objektiv verteidigt werden können. Mit anderen Worten, die Weltanschauung der Moderne ließ die Vorstellung von einer besonderen Offenbarung nicht zu und griff offen die Möglichkeit eines übernatürlichen Eingriffs in die Weltgeschichte an. Die Moderne versetzte die Kirche des Herrn Jesus Christus in eine tiefe intellektuelle Krise.

In den Vereinigten Staaten forderte eine uramerikanische Philosophie bekannt als Pragmatismus die ultimative Autorität und Wahrhaftigkeit der Heiligen Schrift heraus. Pragmatismus war die Vorstellung, dass Wahrheit von sozialer Verhandlung abhängt und dass Vorstellungen bloße Mittel zum Zweck sind, deren Wahrheitsgehalt dadurch entschieden wird, wie sie die besonderen Bedürfnisse ihrer Zeit befriedigen. In den Augen der Pragmatisten sind Vorstellungen nichts als provisorische Antworten auf aktuelle Herausforderungen, und Wahrheit ist per Definition relativ zu Zeit, Ort, Bedürfnis und Person.

Wie die meisten von uns wissen, wurde die Moderne von der Postmoderne abgelöst, die einfach die Moderne in neuer Gestalt präsentiert – die Postmoderne ist nichts mehr als die logische Weiterführung der Moderne in einer neuen Stimmung. Indem sie behaupten, dass alle Wahrheitsauffassungen sozial konstruiert sind, führen postmoderne Menschen einen totalen Krieg gegen die Wahrheit selbst, ein dekonstruktivistisches Projekt, dass alle religiösen, philosophischen und kulturellen Autoritäten niederwerfen will. Ein postmoderner Mensch, der seiner Zeit voraus war, war Karl Marx. Dieser warnte, dass im Licht der Moderne „alles Ständische und Stehende verdampft“.

Der einzige Weg, den rationalistischen Behauptungen der Moderne oder dem hermeneutischen Nihilismus der Postmoderne zu entfliehen, ist die Lehre der Offenbarung – eine Rückkehr zur Lehre von sola Scriptura. Christen müssen sich erinnern, dass wir durch die Lehre der Inspiration und Autorität der Schrift, die uns von den Reformatoren vermacht wurde, Gewissheit über das Wort Gottes haben können, trotz der philosophischen und theologischen Probleme unserer Zeit. Gott hat zu uns auf eine vernünftige Weise gesprochen, in einer Sprache, die wir verstehen können, und hat uns das Geschenk der Offenbarung gegeben, die seine gnädige Selbstmitteilung darstellt.

In Wirklichkeit tobt der Kampf gegen die Autorität und Wahrhaftigkeit der Heiligen Schrift seit der Reformation und setzt sich in unserer eigenen Generation fort. Der Theologe J.I. Packer berichtete einmal von seiner Beteiligung am Kampf über die Irrtumslosligkeit und Autorität der Bibel. Er führt seine Beteiligung auf eine Konferenz zurück, die 1966 in Wenham, Massachusetts, stattfand, als er einige Professoren konfrontierte, die evangelikalen Institutionen angehörten, die sich nun „weigerten, die volle Wahrhaftigkeit der Heiligen Schrift zu bekräftigen.“ Das war vor fünfzig Jahren, und der Kampf über die Wahrhaftigkeit der Bibel ist immer noch nicht vorbei – noch nicht mal annähernd.

Als reformierte Evangelikale müssen wir anerkennen, dass wir als theologische Erben der Reformatoren nicht vor revisionistischen Modellen der Lehre von der Schrift kapitulieren können. Eine Bekräftigung der göttlichen Inspiration und Autorität der Bibel steht seit dem 16. Jahrhundert im Zentrum des reformierten Glaubens. Wir sind diejenigen, die zusammen mit den Reformatoren bekennen, dass wenn die Schrift spricht, dann spricht Gott. Die Heilige Schrift allein ist die ultimative Autorität für Leben und Lehre. In einem gewissen Sinn steht und fällt die reformierte Theologie mit der Wahrheit einer einzigen Glaubensaussage.

Die Theologie der Reformation kann nicht lange überleben, ohne dass die Kirche sich ausdrücklich der Autorität der Schrift über allem verpflichtet. Ohne die Autorität der Schrift sind theologische Überzeugungen bloße Mutmaßungen und unser Predigen nichts mehr als die Zurschaustellung menschlicher Torheit.

Da Christen weiterhin den rauen Wind des Widerstands von falschen Evangelien und von der breiteren Kultur ins Auge sehen, müssen wir weiterhin protestieren. Wir müssen gegen jedes falsche Evangelium und jede Weltanschauung protestieren, die menschliches Gedeihen schmälert. Wir müssen weiterhin an den theologischen Kernüberzeugungen der protestantischen Reformation festhalten und an dem Primat und der Autorität der Schrift. Wir müssen sicherstellen, dass die Schrift recht verkündigt wird, die Kirche auferbaut wird und das Evangelium jeden Teil der Erde erreicht.

Während wir den 500. Jahrestag der Reformation feiern, ist meine Hoffnung, dass die Theologie der Reformatoren in der modernen Kirche zu neuem Leben erwacht. Die Gesundheit der Kirche hängt direkt mit dem Grad unser Hingabe an die Autorität und die Wahrhaftigkeit der Heiligen Schrift zusammen.