Radikal gewöhnliche Nachfolge

Artikel von Michael Horton
11. November 2017 — 8 Min Lesedauer

Radikal. Episch. Revolutionär. Transformativ. Einflussreich. Lebensverändernd. Ultimativ. Extrem. Begeisternd. Emergent. Alternativ. Innovativ. Modern. Das nächste große Ding. Explosiver Durchbruch.

Du kannst wahrscheinlich noch ein paar Adjektive zu der Liste hinzufügen, die, ironischerweise, Teil der gewöhnlichen Gespräche in der Gesellschaft und der heutigen Kirche geworden sind. Viele von uns haben Ausdrücke wie diese so oft gehört, dass sie zu einem Hintergrundgeräusch geworden sind. Obwohl wir durch die Werbung vielleicht etwas übersättigt sind, wollen wir doch eifrig die Dinge „auf eine neue Stufe heben“.

Gewöhnlich muss wohl eines der einsamsten Worte in unserem heutigen Vokabular sein. Wer möchte schon ein Sticker auf seinem Auto haben, der der Nachbarschaft verkündet: „Mein Kind ist ein gewöhnlicher Schüler in der Bubbling Brook Grundschule?“ Wer möchte schon dieser gewöhnliche Mensch sein, der in einer gewöhnlichen Stadt lebt und Mitglied einer gewöhnlichen Gemeinde ist, gewöhnliche Freunde hat und einer gewöhnlichen Arbeit nachgeht? Unser Leben muss etwas zählen. Wir müssen unsere Spuren hinterlassen, ein Vermächtnis und einen Unterschied. Wir müssen radikale Jünger sein, die den Glauben auf eine neue Stufe heben. Und all das sollte etwas sein, das verwaltet, vermessen und aufrechterhalten werden kann. Wir müssen doch unserem Facebookprofil entsprechen.

Und doch nehme ich eine wachsende Ruhelosigkeit mit dieser Ruhelosigkeit wahr. Manche sind ermüdet von den permanenten Aufrufen nach radikaler Veränderung durch neue und verbesserte Methoden. Sie sind weniger sicher, ob sie auf den nächsten Zug aufspringen oder einen neuen Pfad zur Größe einschlagen wollen. Rod Dreher bemerkt:

Der Alltag ist mein Problem. Es ist einfach, darüber nachzudenken, was du zu Kriegszeiten tun würdest oder wenn ein Wirbelsturm durch die Stadt fegt oder wenn du einen Monat in Paris verbringen würdest oder wenn dein favorisierter Politiker die Wahl gewinnt oder wenn du im Lotto gewinnst oder das Produkt kaufst, das du schon immer haben wolltest. Es ist viel schwieriger, herauszufinden, wie du durch den heutigen Tag kommst ohne zu verzweifeln.

Im Buch über seine Schwester, The Little Way of Ruthie Leming, schreibt Dreher über sein zunehmendes Ermüden mit dem Kult der Außergewöhnlichkeit.

Ruhelos für das nächste große Ding

Ich bin überzeugt, dass ein Grund für unsere Besessenheit damit, außergewöhnlich zu sein, die Erweckungskultur ist, die den amerikanischen Protestantismus geprägt hat. Insbesondere durch den Evangelisten Charles G. Finney (1792-1875) nahmen die Erweckungen eine menschenzentrierte Theologie an und erfanden Methoden, die dem entsprachen. Die Errettung wurde in die Hände des Individuums gelegt, weshalb der Evangelist „neue Methoden zur Erzeugung von Buße“ benötigte. Wie Richard Hofstadter bemerkte: „Das System der Stars wurde nicht in Hollywood geboren, sondern auf den christlichen Erweckungen.“ Der Fokus war nicht auf dem Evangelium und den von Gott verordneten Mitteln der Gnade, sondern auf dem Evangelisten und seinen Methoden, um die Erweckung herbeizubringen.

Der Gedanke war, dass die Botschaft und die Methoden, die von Christus eingesetzt wurden, zu schwach – zu gewöhnlich – waren. Es ist nicht das, was in der Kirche und während der Woche zu Hause geschieht, worauf es wirklich ankommt. Es ist der Tag, wenn die Erweckung in die Stadt kommt und wenn man „auf herrliche Weise gerettet“ wird, wie meine Großmutter zu sagen pflegte.

Ein Zeitgenosse von Finney, der reformierte Pastor und Theologe John W. Nevin, stellte dem „System der Sünderbank“ (einem Vorläufer des Aufrufs, nach vorne zu kommen) das „System des Katechismus“ gegenüber:

Der alte presbyterianische Glaube, in den ich hineingeboren wurde, war überall auf die Vorstellung einer Religion der Bundesfamilie gegründet, einer Gemeindemitgliedschaft durch Gottes heiligen Akt der Taufe und einer darauffolgenden katechetischen Unterweisung der Heranwachsenden mit einem direkten Bezug auf ihre Teilnahme am Abendmahl. Mit einem Wort, alles entsprang der Theorie einer sakramentalen, bildenden Religion.

Diese zwei Systeme, so schloss Nevin, „beinhalten im Grunde zwei unterschiedliche Theorien der Religion“. Nevins Fazit ist durch die späteren Entwicklungen bestätigt worden.

Gegen Ende seines Dienstes, als er den Zustand vieler Menschen bedachte, die seine Erweckungen durchlebt hatten, wunderte sich Finney selbst, ob sein endloses Trachten nach immer größeren Erfahrungen zu geistlicher Erschöpfung führen könnte. Seine Bedenken waren gut begründet. Das Gebiet, auf dem Finneys Erweckungen besonders ausgeprägt waren, wird von Historikern heute als das „verbrannte Gebiet“ bezeichnet, ein Keimgebiet für sowohl Desillusionierung als auch für die Verbreitung esoterischer Sekten. Dies ist seit jeher der Teufelskreis evangelikaler Erweckungsbewegungen: ein Pendel, das zwischen Enthusiasmus und Desillusionierung hin und her schwingt statt auf stetige Reifung in Christus durch die Teilnahme am gewöhnlichen Leben der Bundesgemeinschaft zu setzen.

Wenn schrittweises Wachstum in Christus für eine radikale Erfahrung eingetauscht wird, ist es nicht überraschend, dass viele nach dem nächsten großen Ding Ausschau halten, sobald die letzte Erfahrung nachlässt. Selbst in meiner Lebenszeit habe ich eine Parade radikaler Bewegungen beobachtet – und daran teilgenommen. Und jetzt ist laut dem Time Magazin der „neue Calvinismus“ einer der obersten Trends, der die Welt verändert. Diese Bewegung wurde auch als „jung, ruhelos, reformiert“ bezeichnet. Aber solange sie durch jugendhafte Ruhelosigkeit gekennzeichnet ist, wird sie mitunter dazu neigen, zu verdrehen, was es heißt, reformiert zu sein.

Als sie noch junge Fischer waren, konnten meine Kinder die Angelleine nicht lange genug im Wasser lassen, um etwas Lebendiges zu fangen. Sie zogen die Leine immer ein, um zu schauen, ob sie etwas gefangen hatten. Dann wollten sie mit meiner Frau Erdbeeren anpflanzen, aber ihre anfängliche Begeisterung verwandelte sich schnell in Langeweile, als sie, nach nur ein paar Tagen, keine Frucht sahen.

Jung zu sein heißt ruhelos zu sein. Wir sind eingenommen von ungeduldigem Erstaunen und selbstsüchtigen Impulsen. Aber im Neuen Testament werden wir wiederholt dazu aufgerufen, erwachsen zu werden, zu reifen und unsere kindischen Wege abzulegen. Wir sind berufen, uns unseren Ältesten unterzuordnen, ihre Weisheit zu schätzen, die nicht nur Jahre, sondern Generationen umspannt, und einzusehen, dass wir nicht im Besitz aller Antworten sind. Wir sind nicht die Stars in unserem eigenen Film. Wenn der ganze Apparat des Gemeindelebens von und für eine Jugendkultur geschaffen ist, dann werden wir nie erwachsen.

Demnach geht zumindest auf manche Weise unsere ruhelose Ungeduld mit dem Gewöhnlichen nicht nur auf den Einfluss unserer Kultur zurück, sondern auf ungesunde Sichtweisen auf die christliche Jüngerschaft, die unsere Kultur über Generationen hinweg geprägt haben.

Neuer Respekt für das Gewöhnliche

Zuallererst beginnt eine neue Wertschätzung des Gewöhnlichen mit Gott. Natürlich ist Gott keineswegs gewöhnlich, aber ihm gefällt es, auf gewöhnlichen Wegen zu wirken. Unser dreieiniger Gott könnte alles selbst tun, direkt und unmittelbar. Denn er sprach ja: „Es werde Licht“ – und Licht erschien (Gen 1,3). Aber er sprach auch: „Die Erde lasse Gras und Gewächs sprießen … und die Erde brachte Gras und Gewächs hervor“ (Gen 1,11.12). Gott ist nicht weniger die oberste Quelle der Wirklichkeit, wenn er innerhalb der Schöpfung wirkt, um seine Ziele „hervorzubringen“, als wenn er Dinge direkt ins Leben ruft.

In der Vorsehung sollte uns Gottes gewöhnliches Wirken mit Staunen erfüllen. Was könnte gewöhnlicher sein als die Geburt eines Kindes? Wir müssen es nicht ein Wunder nennen, um durch Gottes Handarbeit ins Staunen versetzt zu werden. Selbst Gottes normale Arbeitsweise ist gewaltig. Obwohl die Propheten und Apostel zu einem außergewöhnlichen Amt berufen worden, waren sie dennoch gewöhnliche Menschen, die Gottes Wort in gewöhnlicher Sprache übermittelten.

Wir sehen diese Vielfalt sogar in der Menschwerdung Christi. Dass Gott unser Fleisch im Bauch der Jungfrau annahm, ist nichts geringeres als ein direkter und wundersamer Eingriff in die Geschichte. Und doch nahm er seine Menschlichkeit durch Maria auf eine gewöhnliche Weise an, durch eine gewöhnliche neunmonatige Schwangerschaft. Ihre Geburt des fleischgewordenen Gottes war kein Wunder. Er wuchs sogar auf gewöhnliche Weise heran, durch gewöhnliche Mittel: „Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen“ (Lk 2,52).

Desweiteren, das außergewöhnliche Wunder der neuen Geburt kommt zu uns von oben, aber wir werden mit Christus durch die gewöhnliche Predigt des Evangeliums verbunden. Manche Bekehrungen sind radikal; andere schrittweise. In beiden Fällen ist es Gottes wundersames Wirken durch die gewöhnlichen Gnadenmittel.

Auf allen diesen Wegen ist Gott der Handelnde, selbst wenn er durch geschöpfliche Mittel wirkt. Wir erheben uns nicht zu Gott, sondern er steigt zu uns hinab und vermittelt uns seine Gnade durch Worte und Handlungen, die wir verstehen können.

Gewöhnlich heißt nicht mittelmäßig. Athleten, Architekten, Menschenrechtler und Künstler können die Bedeutung von alltäglicher Treue gegenüber langweiligen Aufgaben bezeugen, die schließlich zu Spitzenleistung führt. Aber selbst wenn wir in unseren unterschiedlichen Berufungen niemals Schlagzeilen machen, es reicht zu wissen, dass wir dorthin von Gott berufen wurden, um eine treue Präsens in dieser Welt aufrechtzuerhalten. Wir schauen im Glauben auf zu Gott und zu unserem Nächsten in Liebe und guten Werken. Du musst nicht die Welt verändern, um eine treue Mutter oder Vater, Geschwisterteil, Gemeindemitglied oder Nachbar zu sein.

Und wer weiß? Wenn wir die Möglichkeiten des Gewöhnlichen entdecken, eine Vorliebe für das Vertraute und ein Staunen über das Alltägliche, werden wir am Ende vielleicht doch radikal sein.