Was ist das Evangelium?

Zum Gebrauch des Wortes „Evangelium“ im Neuen Testament

Artikel von Robert Godfrey
17. Januar 2018 — 8 Min Lesedauer

Viele Christen, Gemeinden und Organisationen gebrauchen regelmäßig das Wort Evangelium, um ihre Überzeugungen zu beschreiben. Theologische Kontroversen fanden und finden über die Bedeutung des Evangeliums statt und darüber, wer es treu verkündigt. Was bedeutet das vertraute Wort Evangelium? Der beste Weg, um diese Frage zu beantworten, ist, die Bibel aufzuschlagen.

Die gute Nachricht

Im griechischen Neuen Testament erscheint das Substantiv euangelion knapp über siebzig Mal. Da sich in einem gewissen Sinne das ganze Neue Testament um das Evangelium dreht, würden wir vielleicht erwarten, dass das Wort öfter vorkommt. Noch überraschender ist, dass es von den Verfassern der neutestamentlichen Bücher sehr unterschiedlich eingesetzt wird. Paulus gebraucht das Wort mehr als dreimal so oft wie alle anderen Verfasser zusammen. Die meisten anderen Vorkommen sind im Matthäus- und Markusevangelium sowie vereinzelt im Lukas- und Johannesevangelium und den Petrus- und Jakobusbriefen.

Das Wort Evangelium bedeutet einfach „gute Nachricht“. Das Wort kam nicht nur im Rahmen der christlichen Verkündigung vor, sondern wurde in der heidnischen Welt für eine positive Bekanntmachung gebraucht. Im Neuen Testament bezieht es sich auf die gute Nachricht von Jesus als Retter. Oft wird es mit der Annahme gebraucht, dass der Leser weiß, was das Wort bedeutet.

Der Gebrauch des Wortes im Neuen Testament

Wenn wir die Arten genauer untersuchen, auf die das Wort Evangelium im Neuen Testament gebraucht wird, werden mehrere Punkte sehr deutlich.

  • Erstens finden wir oft den Ausdruck „das Evangelium Gottes“. Dieser Ausdruck betont, dass der Ursprung des Evangeliums die Gabe Gottes ist. Das Evangelium ist göttlichen, nicht menschlichen, Ursprungs.
  • Zweitens wird das Wesen des Evangeliums auf verschiedene Weisen bestimmt: das Evangelium ist wahr (Gal 2,5.14; Kol 1,5), gnädig (Apg 20,24) und herrlich (2Kor 4,4; 1Tim 1,11).
  • Drittens sehen wir zwei Antworten auf das Evangelium: Die primäre Antwort ist Glaube (Apg 15,7; Eph 1,13). Aber Gehorsam ist auch eine Antwort (1Petr 4,7; Röm 1,5; 10,16; 16,26; 2Thess 1,8). (Dass Paulus im Römerbrief vom Glaubensgehorsam spricht, enthält eine gewisse Ironie, da er auf diejenigen antwortet, die ihm Antinomismus vorwerfen; dass er gegen das Gesetz ist).
  • Viertens sehen wir verschiedene Resultate des Evangeliums. Das Evangelium bringt, natürlich, Errettung (Röm 1,16; Eph 1,13). Es bringt außerdem das Reich Gottes (Mt 4,23; 9,35; 24,14). Es erweckt Hoffnung im Volk Gottes (Kol 1,23). Das Evangelium ist aber auch ein Antrieb zur Heiligung (Mk 8,35; 10,29; 2Kor 9,13; Eph 6,15; Phil 1,27).

All diese Möglichkeiten, in denen das Wort Evangelium gebraucht wird, weisen auf seinen Inhalt hin.

Gesetz und Evangelium

Es gibt aber auch Stellen im Neuen Testament, die den Inhalt ausdrücklich wiedergeben. Wenn wir diese Stellen untersuchen, entdecken wir, dass sich das Wort Evangelium manchmal breit auf alle Aspekte der Errettung und des neuen Lebens bezieht, welches Jesus seinem Volk schenkt, und manchmal eng auf das, was Jesus für uns und außerhalb von uns getan hat. Mit anderen Worten, manchmal bezieht sich der Begriff Evangelium breit auf das Werk Jesu in der Rechtfertigung und Heiligung seines Volkes und manchmal eng auf das Werk Jesu in der Rechtfertigung. Noch anders ausgedrückt bezieht sich das Wort Evangelium manchmal breit auf alle neutestamentlichen Erfüllungen dessen, was im Alten Testament verheißen wurde, und manchmal eng auf Jesu Werk im Gegensatz zu unserer Einhaltung des Gesetzes.

Ein Beispiel für den breiteren Gebrauch des Wortes Evangelium kann man in Markus 1,1 sehen: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“. Dieser Gebrauch des Wortes Evangelium scheint sich auf alles zu beziehen, was Markus uns über die Lehre und des Werk Jesu berichtet. Wir sehen einen weiteren breiten Gebrauch in Offenbarung 14,6-7:

Und ich sah einen anderen Engel inmitten des Himmels fliegen, der hatte ein ewiges Evangelium zu verkündigen denen, die auf der Erde wohnen, und zwar jeder Nation und jedem Volksstamm und jeder Sprache und jedem Volk. Der sprach mit lauter Stimme: Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre, denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen; und betet den an, der den Himmel und die Erde und das Meer und die Wasserquellen gemacht hat!

Hier ist das Evangelium der Aufruf, Buße zu tun und Gott anzubeten.

Öfter jedoch wird der Begriff Evangelium enger gebraucht und sein Inhalt ist bestimmt. Wir sehen das in 1. Korinther 15,1-4:

Ich erinnere euch aber, ihr Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht, durch das ihr auch gerettet werdet, wenn ihr an dem Wort festhaltet, das ich euch verkündigt habe - es sei denn, dass ihr vergeblich geglaubt hättet. Denn ich habe euch zu allererst das überliefert, was ich auch empfangen habe, nämlich dass Christus für unsere Sünden gestorben ist, nach den Schriften, und dass er begraben worden ist und dass er auferstanden ist am dritten Tag, nach den Schriften.

Hier ist das Evangelium die Botschaft vom Tod und der Auferstehung Jesu, die Rettung bringen.

An einer anderen Stelle schreibt Paulus von „dem Evangelium der Herrlichkeit des glückseligen Gottes, das mir anvertraut worden ist“ und führt aus, was das Evangelium ist:

Glaubwürdig ist das Wort und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu retten, von denen ich der größte bin. Aber darum ist mir Erbarmung widerfahren, damit an mir zuerst Jesus Christus alle Langmut erzeige, zum Vorbild für die, die künftig an ihn glauben würden zum ewigen Leben. (1Tim 1,11.15-16)

Hier ist das Evangelium das rettende Werk Christi für Sünder.

Ähnlich schreibt Paulus im 2. Timotheusbrief:

So schäme dich nun nicht des Zeugnisses von unserem Herrn, auch nicht meinetwegen, der ich sein Gefangener bin; sondern leide mit uns für das Evangelium in der Kraft Gottes. Er hat uns ja errettet und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht aufgrund unserer Werke, sondern aufgrund seines eigenen Vorsatzes und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben wurde, die jetzt aber offenbar geworden ist durch die Erscheinung unseres Retters Jesus Christus, der dem Tod die Macht genommen hat und Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium. … Halte im Gedächtnis Jesus Christus, aus dem Samen Davids, der aus den Toten auferstanden ist nach meinem Evangelium. (2Tim 1,8-10; 2,8)

Dieser engere Gebrauch des Wortes Evangelium war sehr verbreitet in den Schriften der Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Wir können das bei Johannes Calvin sehen:

Das Wort Glaube wird als Metonymie (bei dem der Name eines Konzepts für ein anderes Konzept gebraucht wird, das mit ihm verwandt ist) für das Wort Verheißung eingesetzt, d.h. für das Evangelium selbst, das mit dem Glauben verwandt ist. Der Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium muss verstanden werden, und von dieser Unterscheidung leiten wir ab, dass, genauso wie das Gesetz Werke einfordert, so fordert das Evangelium nur ein, dass Menschen Glauben vorbringen, um die Gnade Gottes zu empfangen.

Das wird auch deutlich bei Zacharias Ursinius. Ziemlich am Anfang seines Kommentars über den Heidelberger Katechismus unterteilt Ursinius alle Lehre in Gesetz und Evangelium:

Die Lehre der Kirche besteht aus zwei Teilen: das Gesetz und das Evangelium; in denen wir die Summe und das Wesen der Heiligen Schrift zusammengefasst haben. Das Gesetz werden die Zehn Gebote genannt und das Evangelium ist die Lehre von Christus als Mittler und der freien Vergebung der Sünden durch Glauben.

Solche Reflektionen über das Evangelium waren auch später in der reformierten Theologie üblich, wie wir aus diesem längeren, faszinierenden Zitat des großen niederländischen Theologen Herman Bavinck erkennen können:

Aber das Wort Gottes, sowohl als Gesetz und Evangelium, ist die Offenbarung des Willens Gottes, die Verkündigung des Bundes der Werke und des Bundes der Gnade… . Obwohl die Begriffe „Gesetz“ und „Evangelium“ in einem breiten Sinn gebraucht werden können, um die alte und die neue Dispensation des Gnadenbundes zu bezeichnen, beschreiben sie in ihrer eigentlichen Bedeutung zwei wesentlich unterschiedliche Offenbarungen des göttlichen Willens (Bavinck zitiert hier viele neutestamentliche Beweisstellen) … . In diesen Stellen werden Gesetz und Evangelium als Forderung und Gabe, als Befehl und Verheißung, als Sünde und Gnade, als Krankheit und Heilung, als Tod und Leben gegenübergestellt … . Das Gesetz entspringt der Heiligkeit Gottes, das Evangelium seiner Gnade; das Gesetz wird aus der Natur erkannt, das Evangelium nur aus besonderer Offenbarung; das Gesetz fordert vollkommene Gerechtigkeit, aber das Evangelium verleiht sie; das Gesetz führt Menschen durch Werke zum ewigen Leben und das Evangelium bringt gute Werke aus dem Reichtum des ewigen Lebens hervor, das durch Glauben erlangt wird; das Gesetz verdammt die Menschen auf der Stelle und das Evangelium spricht sie frei; das Gesetz wendet sich an alle Menschen und das Evangelium nur an diejenigen, die es hören können.

Was für eine klare, deutliche, biblische und kostbare Darstellung des Evangeliums.

Der Auftrag der Gemeinde

Die Gemeinde heute muss das Evangelium sowohl in seinem breiten als auch in seinem engen Sinn verkündigen. Das griechische Wort für Evangelium hat der christlichen Welt das Wort Evangelisation geschenkt. Wahre Evangelisation ist, entsprechend des großen Auftrags Jesu in Matthäus 28,18–20 eine Frage des Jüngermachens: erstens, im engeren Sinn Männer und Frauen dazu aufzurufen, an Jesus zu glauben, und, zweitens, im breiteren Sinn sie zu lehren, alles zu halten, was Jesus seinen Jüngern befohlen hat. Lasst uns also um des Evangeliums willen wahre Evangelisation fördern.