Wie Sünde abgetötet wird

Artikel von Sinclair B. Ferguson
16. März 2018 — 9 Min Lesedauer

Die Nachwirkung eines Gesprächs kann die Weise ändern, wie wir über dessen Wichtigkeit denken.

Mein Freund – ein jüngerer Pastor – saß am Ende einer Konferenz mit mir zusammen am Tisch und sagte: „Bevor wir heute auseinandergehen, erkläre mir doch nacheinander die notwendigen Schritte, um einem Menschen zu helfen, die Sünde abzutöten.“ Wir sprachen eine Weile darüber und gingen anschließend ins Bett. Hoffentlich fühlte er sich durch dieses Gespräch ebenso gesegnet wie ich. Noch immer frage ich mich, ob er seine Frage als Pastor stellte oder einfach für sich selbst – oder beides.

Wie würdest du diese Frage am ehesten beantworten? Das Erste was zu tun ist: Schlag die Bibel auf. Ja, schlag John Owen auf (immer eine gute Idee!), oder einen anderen Ratgeber, sei er tot oder lebendig. Aber vergiss nicht, wir wurden in diesem Bereich nicht nur mit guten menschlichen Quellen alleingelassen. Es ist notwendig, aus dem „Mund Gottes“ unterwiesen zu werden. Damit die Grundsätze, welche wir anzuwenden lernen, sowohl die Autorität Gottes als auch die Versprechen Gottes beinhalten, um sie funktionstüchtig zu machen.

Mir kommen einige Passen zum Studieren in den Sinn: Römer 8,13; Römer 13,8–14 (der Text von Augustinus); 2. Korinther 6,14–7,1; Epheser 4,17–5,21; Kolosser 3,1–17; 1. Petrus 4,1–11; 1. Johannes 2,28–3,11. Bemerkenswerterweise kommt das Verb „töten“ („abtöten“) nur zweimal in diesen Passagen vor. Ebenso bedeutend ist, dass es in jeder Passage um mehr geht als nur diese eine Ermahnung, die Sünde zu töten. Diese Beobachtung erweist sich, wie wir später sehen werden, als enorm wichtig.

Von all diesen Passagen ist Kolosser 3,1–17 wahrscheinlich die beste, um anzufangen.

Hier haben wir relativ junge Christen. Sie haben eine wundervolle Bekehrung aus dem Götzendienst zu Christus erlebt. Sie sind in die herrlich neue und befreiende Welt der Gnade eingetreten. Und vielleicht – wenn wir zwischen den Zeilen lesen – hatten sie zeitweise das Gefühl der vollkommenen Befreiung, nicht nur von der Strafe der Sünde, sondern auch von deren Einfluss – so wunderbar war ihre neue Freiheit. Doch dann - natürlich – erhob die Sünde ihr scheußliches Haupt erneut. Nach dem Erleben des „jetzt schon“ der Gnade entdeckten sie nun das schmerzhafte „noch nicht“ der andauernden Heiligung. Kommt uns bekannt vor!

Doch wie es in unserer evangelikalen Kultur von Sofort-Lösungen für langfristige Probleme ist, solange die Kolosser kein tiefgehendes Verständnis der Evangeliums-Grundsätze hatten, waren diese nun in Gefahr! Denn genau an diesem Punkt sind junge Christen leichte Beute für Irrlehrer, welche ihnen ein höheres geistliches Leben versprechen. Gerade das hatte auch Paulus befürchtet (Kolosser 2,8.16). Heiligkeit-schaffende Methoden waren nun im Trend (Kolosser 2,21–22) – und sie sahen zutiefst geistlich aus, genau das Richtige für ernsthafte junge Christen. Doch in Wirklichkeit sind sie „wertlos und dienen zur Befriedigung des Fleisches“ (Kolosser 2,23). Neue Methoden helfen uns nicht im Umgang mit der Sünde. Nur das Verständnis, wie das Evangelium funktioniert, kann uns eine angemessene Grundlage und ein Muster dafür liefern. Das ist die Thematik von Kolosser 3,1–17.

Paulus gibt uns das Muster und den Ablauf vor, den wir brauchen. Wie Olympische Weitspringer werden wir nur Erfolg haben, wenn wir vom Angriffspunkt aus zurückgehen zu einem Punkt, an dem wir Kraft schöpfen können für die anstrengende Auseinandersetzung mit der Sünde. Wie nun lehrt Paulus uns, das zu tun?

Zu allererst unterstreicht Paulus und hebt damit die Wichtigkeit hervor, dass wir vertraut mit unserer neuen Identität in Christus sein sollten (Kolosser 3,1–4). Wie oft, wenn wir geistlich versagen, klagen wir und vergessen, wem wir wirklich gehören – nämlich Christus. Wir haben eine neue Identität. Wir sind nicht mehr „in Adam“, sondern „in Christus“; nicht mehr im Fleisch, sondern im Geist; nicht mehr beherrscht von der alten Kreatur, sondern wir leben in der neuen (Römer 5,12–21; 8,9; 2. Korinther 5,17). Paulus nimmt sich Zeit, um das ausführlich zu erklären. Wir sind mit Christus gestorben (Kolosser 3,3, wir wurden sogar mit Christus begraben, Kolosser 2,12); wir sind mit Ihm auferweckt worden (Kolosser 3,1), und unser Leben ist in Ihm verborgen (Kolosser 3,3). Tatsache ist, wir sind so fest mit Christus verbunden, dass Christus nicht ohne uns in Herrlichkeit erscheinen wird (Kolosser 3,4).

Scheitern im Umgang mit der Gegenwart der Sünde lässt sich oft auf eine geistliche Amnesie zurückführen; Vergessenheit unserer neuen, wirklichen, realen Identität. Als Gläubiger bin ich eine Person, die von der Herrschaft der Sünde befreit wurde und somit frei und dazu motiviert, gegen den Rest von Sünde in meinem Herzen anzukämpfen.

„Grundsatz Nummer eins lautet also: Erkenne, ruhe in, durchdenke und handle nach deiner neuen Identität – du bist in Christus.“
 

Grundsatz Nummer eins lautet also: Erkenne, ruhe in, durchdenke und handle nach deiner neuen Identität – du bist in Christus.

Zweitens deckt Paulus das Werk der Sünde in allen Bereichen unseres Lebens auf (Kolosser 3,5–11). Wenn wir biblisch mit unserer Sünde umgehen wollen, dann dürfen wir nicht den Fehler machen, unseren Angriff nur auf einen Bereich des Versagens in unserem Leben zu begrenzen. Alle Sünde muss bekämpft werden. Darum geht Paulus auch auf die Wirklichkeit der Sünde im privaten Leben (V. 5), im Alltag (V. 8) und im Gemeindeleben ein (V. 9–11, „einander“, „hier“, das ist Gemeinschaft der Gemeinde). Die Herausforderung beim Abtöten der Sünde ist vergleichbar mit der Herausforderung einer Diät (auch eine Form der Abtötung!): Kaum haben wir angefangen, fallen uns alle möglichen Gründe für unser Übergewicht auf. Wir bekommen es in Wirklichkeit mit uns selbst zu tun, nicht nur mit Kalorienzählen. Ich bin das Problem, nicht die Kartoffelchips! Die Sünde abzutöten ist eine Umstellung des ganzen Lebens.

Drittens versorgt uns die Auslegung von Paulus mit einem praktischen Leitfaden zur Abtötung der Sünde. Manchmal scheint es fast schon so, als würde Paulus uns ermahnen („Tötet daher …“, Kap. 3,5) ohne uns „praktische“ Hilfe zu geben, um unsere „Wie?“-Frage zu beantworten. Heute gehen oft Christen zu Paulus, um ihn zu fragen, was zu tun ist und anschließend in den christlichen Bücherladen, um herauszufinden, wie man das in die Tat umsetzt! Wieso dieser Umweg? Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir nicht lange genug über seine Worte nachsinnen. Wir lassen unsere Gedanken nicht tief genug in die Schrift eindringen. Denn wann immer Paulus uns eine Ermahnung gibt, ist diese von Hinweisen begleitet, wie wir sie in die Praxis umsetzen sollen.

Das ist in der Tat auch hier so. Beachte, wie dieser Abschnitt unsere „Wie?“ Fragen beantwortet.

  1. Lerne, Sünde wirklich beim Namen zu nennen. Ein Spaten ist ein Spaten – nenne es „sexuelle Unmoral,“ nicht „ich werde ein wenig versucht“; nenne es „Unreinheit,“ nicht „ich ringe mit meinen Gedanken“; nenne es „böses Verlangen, was Götzendienst ist“, nicht „ich denke, ich sollte meine Prioritäten besser setzen“. Dieses Muster zieht sich durch den ganzen Abschnitt. Wie kraftvoll das doch Selbstbetrug aufdeckt – und uns beim Entlarven von Sünde hilft, die sich im Verborgenen unseres Herzens befindet!
  2. Siehe deine Sünde, wie sie in Gottes Gegenwart wirklich ist. „Um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes“ (Kol 3,6). Die Lehrmeister des geistlichen Lebens sprachen davon, unsere Lüste zum Kreuz zu zerren (mögen sie auch noch so schreien und treten), zu dem zorn-tragenden Christus. Meine Sünde führt zu – nicht anhaltender Freude –sondern heiligem, göttlichen Missfallen. Erkenne das wahre Wesen deiner Sünde im Lichte der Bestrafung. Wir denken zu leicht, die Sünde sei im Leben eines Christen nicht so ernst zu nehmen wie im Leben eines Ungläubigen. „Sie wurde mir vergeben, nicht wahr?“ Nicht wenn wir darin beharren (1. Johannes 3,9)! Nimm die Perspektive des Himmels über Sünde an und fühle die Schande, in der du einst gewandelt bist (Kolosser 3,7; siehe auch Römer 6,21).
  3. Erkenne die Widersprüchlichkeit deiner Sünde. Du hast den „alten Menschen“ ausgezogen und den „neuen Menschen“ angezogen (Kolosser 3,9-10). Du bist nicht mehr der „alte Mensch.“ Deine Identität „in Adam“ existiert nicht mehr. Der alte Mensch wurde „mit Ihm [Christus] gekreuzigt, damit der Leib der Sünde [wahrscheinlich „das Leben im Leib unter der Herrschaft der Sünde“] außer Wirksamkeit gesetzt sei, sodass wir der Sünde nicht mehr dienen“ (Röm 6,6). Neue Menschen leben ein neues Leben. Alles andere ist ein Widerspruch zu dem, was ich „in Christus“ bin.
  4. Töte die Sünde (Kolosser 3,5). Das ist ganz „einfach“. Widerstehe ihr, lass sie verhungern und weise sie ab. Du kannst die Sünde nicht „töten“, ohne den Schmerz des Todes zu verspüren. Es gibt keinen anderen Weg!

Beachte aber, dass Paulus das in einen wichtigen, breiteren Kontext stellt.

Die negative Aufgabe, Sünde abzutöten, wird nicht getrennt erfüllt von dem positiven Aufruf des Evangeliums, den Herrn Jesus Christus „anzuziehen“ (Römer 13,14). Paulus verdeutlicht dies in Kolosser 3,12–17. Das Haus auszufegen lässt uns nur offen für eine weitere Invasion der Sünde. Doch wenn wir anfangen, den „herrlichen Austausch“, ein Grundprinzip des Evangeliums, zu verstehen, dann werden wir wirklichen Fortschritt in Heiligkeit erleben. Wenn sündhafte Begierden nicht nur abgewehrt, sondern mit Christus-ähnlichen Gnaden (V. 12) und Handlungen (V. 13) ausgetauscht werden; wenn wir in seine Persönlichkeit gekleidet und Seine Gnadengaben in der Liebe zusammengefasst sind (V. 14), sowohl in unserem Privatleben als auch in der Gemeinschaft der Gemeinde (V. 12–16), dann werden der Name und die Herrlichkeit des Herrn in uns und unter uns offenbart und verherrlicht (V. 17).

Dies sind einige der Dinge, über die ich mit meinem Freud an diesem einprägsamen Abend sprach. Wir hatten nicht die Gelegenheit, uns später gegenseitig zu fragen: „Wie läuft es bei dir?“, denn es war unser letztes Gespräch. Er starb ein paar Monate später. Ich habe mich oft gefragt, wie die letzten Monate bei ihm verliefen. Doch das aufrichtige pastorale und persönliche Anliegen von ihm hallt noch immer in meinen Gedanken nach. Ähnlich wie die Sorge, welche Charles Simeon nach eigener Aussage in den Augen des von ihm geliebten Porträts von Henry Martyn empfand: „Sei nicht leichtfertig!“