Die Beziehung von Gottes Liebe und seiner Erwählung

Artikel von John Piper
12. September 2017

Hat Gott mich auserwählt, weil er mich geliebt hat, oder liebt er mich, weil er mich auserwählt hat?

Der Artikel ist die Übersetzung einer Audio Mitschrift und kann auf Englisch unter folgendem Link nachgehört werden: http://www.desiringgod.org/interviews/did-god-choose-me-because-he-loved-me-or-love-me-because-he-chose-me 

Bei desiringGod.org glauben wir an die Souveränität Gottes – wir glauben daran, weil wir es in der Bibel sehen. Wir glauben nicht nur an Gottes Souveränität über alles, sondern wir feiern sie auch. Und wir greifen wichtige Fragen dazu auf, um besser zu verstehen, was sie im Einzelnen für unser Leben bedeutet. Die heutige Frage ist kurz und einfach, doch tiefgründig und kommt von unserer Podcast Zuhörerin Zena: „Pastor John, hat Gott mich auserwählt, weil er mich liebt? Oder liebt er mich, weil er mich erwählt hat?“ Wie würdest du Zena antworten?

Wie bei so vielen Fragen, beantwortet sich diese Frage fast schon von selbst, sobald wir unsere Begriffe definiert haben, oder sobald wir klar gemacht haben, was diese beiden Fragen zu bedeuten haben. Eigentlich ist der Grund, warum ich die Frage für so beachtenswert halte, weil ich auf diese Weise dazu komme, die Begriffe zu erklären. Wenn man Begriffen eine bestimmte Bedeutung gibt, können sich ziemlich verkehrte Lehren herausbilden.

Henne oder Ei?

Zum Beispiel könnte jemand die Frage stellen „Hat Gott mich erwählt – für sich selbst auserwählt – weil er mich liebt?“, mit der Annahme, dass Gott etwas Liebenswertes in mir gesehen habe und dann auf dieser Grundlage sich zu mir hingezogen gefühlt hat. Dann, wegen dieser Neigung zu mir, und meinem eigenen Wert, den er erkannt hat, erwählt er mich dazu, Teil seiner Familie zu werden.

Das wäre ein schrecklich falsches Bild – ein Gott, der die Menschheit und alle Völker prüft, um zu sehen, wer würdig ist, von ihm adoptiert zu werden, oder wer die notwendigen Qualifikationen besitzt, um aus einer gefallen Welt und einer verdammten Menschheit erwählt zu werden. Das ist nicht das Bild des Neuen Testaments. Sobald wird das klargestellt haben, wird die Antwort immer offensichtlicher.

Jemand könnte fragen „Liebt er mich, weil er mich erwählt hat?“, mit der Annahme, dass Gott in seiner Auserwählung irgendwie emotionslos oder gleichgültig gewesen ist. So als sei seine Entscheidung für uns von Anfang an zögerlich oder herzlos und freudlos geschehen. Erst nachdem er seine Auserwählten freudlos gesammelt hat, kommt er irgendwie dazu, sie zu lieben, weil er sie nun mal erwählt hat. Dies, so scheint es mir, vermittelte auch einen schrecklich falschen Eindruck vom Neuen Testament.

Wenn man das alles zusammenführt

Lasst uns einige Stellen betrachten, um zu sehen, ob sie Licht auf die Beziehung von Gottes Erwählung und seiner Liebe werfen. Das Bild der Erwählung des Volkes Gottes im Alten Testament sieht folgendermaßen aus:

„Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt, dass du ihm zum Volk seines Eigentums wirst aus allen Völkern, die auf dem Erdboden sind. Nicht weil ihr mehr wäret als alle Völker, hat der HERR sich euch zugeneigt und euch erwählt - ihr seid ja das geringste unter allen Völkern – , sondern wegen der Liebe des HERRN zu euch.“ (5Mo 7,6-8)

Mose erwähnt Erwählung und Liebe, aber schreibt keine Reihenfolge vor oder sagt, was zuerst kommt. Genau genommen liest es sich so als seien die Begriffe nahezu austauschbar. „Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt, dass du ihm zum Volk seines Eigentums wirst.“  Warum? Weil ihr geliebt wurdet; das bedeutet, er erwählte euch.

Man kann genauso wenig eine zeitliche Reihenfolge in dem Satz „sich euch zugeneigt und euch erwählt“ erzwingen, wie man eine zeitliche Reihenfolge in der Aussage ausmachen kann „Ich habe dir mein Eheversprechen gegeben, und ich habe dich geheiratet.“ Indem er sie erwählt hat, hat er sie geliebt. Indem er sie geliebt hat, hat er sie erwählt. Seine Liebe war seine Erwählung; seine Erwählung war seine Liebe.

Das eine impliziert das andere

Lasst uns nun sehen, ob das im Neuen Testament bestätigt wird. Im Ersten Thessalonicherbrief 1,4 heißt es: „Liebe Brüder, von Gott geliebt, wir wissen, dass ihr erwählt seid.“ Dies scheint folgendes zu bedeuten: Da man sehen kann, dass sie geliebt sind, ist dies der Beweis für ihre vorherige Erwählung. Doch in Römer 11,5 ist es anderes herum: „So ist nun auch in der jetzigen Zeit ein Rest nach Auswahl der Gnade entstanden.“ Hier scheint es so zu sein als sei die Erwählung dem Gnaden- oder Liebesakt vorausgegangen.

Wir lesen in Epheser 1,4-5: „In ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten; in seiner Liebe hat er uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein.“ Im Wesentlichen gleichen sich Erwählung und Liebe. In Gottes Erwählung hat er uns vorherbestimmt und in seiner Liebe hat er uns vorherbestimmt.

Im Römerbrief lesen wir über die Erwählung von Jakob vor Esau, bevor sie geboren wurden – bevor sie irgendetwas Gutes oder Schlechtes getan haben. Nichts in ihnen brachte Gott dazu, den einen dem anderen vorzuziehen.

Denn als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten - damit der nach freier Auswahl gefasste Vorsatz Gottes bestehen bliebe, nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Berufenden -, wurde zu ihr gesagt: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen“; wie geschrieben steht: „Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst." (Römer 9,11-13

Die Worte „Jakob habe ich geliebt“ stehen praktisch an der Stelle von „Jakob habe ich erwählt.“ Es geschah bevor sie geboren wurden, oder irgendetwas Gutes oder Schlechtes Getan haben.

Im Einklang miteinander

Ein weiterer Text – und ich denke, dass dieser eine Formulierung bietet, die uns helfen kann die notwendige Balance zwischen der Realität der Liebe und der  Realität der Erwählung zu halten.

In Römer 11,28 sagt Paulus über das jüdische Volk: „Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde um euretwillen, hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte um der Väter willen.“

Nun sagt die Formulierung „hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte“, dass geliebt sein im Einklang mit der Erwählung steht. Sie erklärt nicht, was zuerst kommt oder was das andere verursacht. Sie sagt einfach, dass sie im Einklang stehen. Sie passen perfekt zusammen. Sie stehen immer im Einklang miteinander. 

Eine gefallene Welt lieben

Meine Schlussfolgerung ist, dass Erwählung ein Akt Gottes, da er eine gefallene Welt von unwürdigen Sündern vorhersieht – und um Christi willen (Ich sage das auf der Grundlage von Epheser 1,5) – schenkt Gott einigen seine Liebe, gemäß seiner absoluten Freiheit und von seinem verborgenen Ratschluss geleitet. Ich kann in der Bibel keine Rechtfertigung dafür finden, Gottes Liebe für diejenigen, die er retten will, von seinem Erwählungsakt, in aufeinander folgende Schritte zu trennen. Es gibt keine Erwählung, die nicht liebend ist und es gibt keine am Anfang stehende Liebe, die nicht auch erwählend ist.

Zu sagen, dass Erwählung nicht auf Liebe gründet –ich argumentiere dafür, dass wir das nicht sagen sollten – bewahrt uns vor dem möglichen Missverständnis, dass wir auserwählt wurden, wegen etwas Liebenswertem in uns. Und zu sagen, das Liebe nicht auf Erwählung basiert, bewahrt uns vor dem Missverständnis, dass Gottes Auserwählung in irgendeiner Art und Weise herzlos oder emotionslos war. Beides zu sagen, sollte jedes Kind Gottes mit einem äußersten Gefühl der Unwürdigkeit und des Staunens erfüllen, da es Gott gefiel uns zu seinem Eigentum zu machen.


John Piper ist der Gründer und Lehrer von desiringGod.org und Rektor des Bethlehem College & Seminary. Für 33 Jahre war er Pastor der Bethlehem Baptist Church in Minneapolis, Minnesota. Er ist Autor von mehr als 50 Büchern. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

John Piper ist leidenschaftlicher Prediger und Professor für Praktische Theologie am Bethlehem College und Seminar in Minneapolis, Minnesota (USA). Er hat zahlreiche Bücher verfasst, von denen viele auch in deutscher Sprache erhältlich sind.